Kritik an Heinrich Bullinger: Dieser Reformator ist eine fiktive Gestalt - genau wie Zwingli!


Die Bullinger-Manie in Zürich

Der sagenhafte Zürcher "Reformator" wird auch heute noch von offizieller Seite verehrt wie ein Säulenheiliger

von Christoph Pfister

Porträt des sagenhaften Reformators "Heinrich Bullinger", "1504 - 1575"


"Kunst in Zürich ist unsichtbar: Denkmäler und Skulpturen stehen herum wie Autostopper, die niemand mitnimmt. Ulrich Zwingli vor der Wasserkirche: Man muß Japaner sein, um ihn zu finden. Waldmann vor dem Stadthaus: Who cares! Heinrich Bullinger (wer?) beim Grossmünster: Alt und grau. Die Helden von früher sind schon lange müde, ihre Message ist morsch. Jetzt muss der Kulturfriedhof Zürich einmal entrümpelt werden".

Auszug aus einem Pamphlet von Daniel Ambühl, 1993


Die angebliche ältere Geschichte der Eidgenossen ist entlarvt

2008 habe ich eine Betrachtung über die ältere Geschichte der Schwyzer Eidgenossenschaft unter dem Geschichtspunkt der Geschichts- und Chronologiekritik verfaßt:

Bern und die alten Eidgenossen. Die Entstehung der Schwyzer Eidgenossenschaft im Lichte der Geschichtskritik.

In diesem Werk weise ich nach, daß sogar noch die Reformationsgeschichte des angeblichen 16. Jahrhunderts eine spätere Erfindung ist. - Die wahre, die inhaltlich und zeitlich glaubwürdige Geschichte der Eidgenossenschaft beginnt demnach erst etwa zu Beginn des 18. Jahrhunderts.

Bis jetzt läßt sich die etablierte, die universitäre, die staatlich bezahlte Geschichtswissenschaft von solchen Einwänden nicht beeindrucken. In bewährte Vogel-Strauß-Manier steckt man einfach den Kopf in den Sand und betet nach, was schon andere gesagt und geschrieben haben.

Bullinger: eine pseudohistorische Schießbudenfigur

Zürich sieht sich als historische Stadt des wahrhaften protestantischen Glaubens. Man muß dazu nur einmal das Großmünster besuchen. - Der Bau stammt angeblich aus der Zeit "um 1200 AD" - die Kunsthistoriker wissen das sehr genau. - In Tat und Wahrheit war die Kirche vor vielleicht vierhundert Jahren vollendet.

Und überall am Großmünster gibt es Denkmäler und Tafeln, die auf den sagenhaften Zürcher Reformator "Huldrych Zwingli" hinweisen. - Bei soviel Huldigung muß es den streitbaren Kirchenfürsten wohl gegeben haben.

Aber Zwingli ist eine Fiktion. Diesen Mann haben protestantische Theologen des 18. Jahrhunderts erfunden, um dem neuen Zürcher Glauben eine pseudohistorische Begründung zu geben.

Dieser Zwingli, der tapfer kämpfend "1531" bei Kappel fielt,  hatte einen ebenso fähigen Nachfolger, der das Werk seines Vorgängers weiterführte: Heinrich Bullinger (angebliche Lebensdaten: 1504 - 1575).

Aus Anlaß seines fiktiven 500. Geburtstags feiert Zürich und der Aargau dieses Jahr ein Bullinger-Jubiläum. Über die Dinge, die da geboten werden, kann man nur den Kopf schütteln.

Ein Bulllinger-Festkomitee umfaßt von Professoren über Regierungsräte bis hin zu Wirtschaftskapitänen und sogar Firmen alles, was in Zürich Rang und Namen hat. Eine Gedächtnisausstellung im Großmünster richtet sich an das Publikum. Und im August findet ein viertägiger internationaler Bullinger-Kongress in Zürich statt.

Für Bullinger wird alles getan und alles unternommen. Nur eines klammern die beteiligten Historiker, Philologen und Theologen geflissentlich aus, nämlich die lästige Frage, ob es diesen Reformator überhaupt gegeben hat.

Für uns ist das "16. Jahrhundert" noch finsterste Geschichtsnacht.

Die Schriftlichkeit hat sich erst im 18. Jahrhundert entwickelt. Die Bibel ist gedruckt oder handschriftlich vor weniger als drei Jahrhunderten anzusetzen.  Die "antiken" Autoren ebenfalls. Die Kirchenväter und die übrigen älteren Schriften folgen noch einmal später.

Zwingli und Bullinger können also erst etwa gegen 1740 verfaßt worden sein. Schon der Umfang ihres schriftlichen Werkes verbietet jede frühere Datierung. Von Bullinger gibt es noch heute sage und schreibe 12'000 (!) Briefe von ihm und an ihn. Und die Adressaten reichen bis England und Polen. - Allein die Korrespondenz mit Graubünden füllt drei dicke Bände.

Solche aufgeblähte Gesamtwerke sind erst in der Renaissance ab vielleicht 1630 möglich. - Und erst dann wurden die verschiedenen Glaubensbekenntnisse schriftstellerisch ausgearbeitet. - Das gilt auch für den erwähnten Bullinger.

Die Riesenwerke der angeblichen Reformatoren wie Zwingli, Haller, Bullinger, Calvin können Einzelne gar nicht verfaßt haben. Hier sind gut dotierte Schreibstuben und Gelehrtenzirkel anzunehmen, - Für Heinrich Bullinger zum Beispiel wird in gleichem Atemzug ein Josias Simler genannt. - Welche Rolle spielte er?

Alle geschichtlichen und Geisteshelden der erfundenen Geschichte tragen Sinn-Namen, die erweisen, daß es sich um fingierte Gestalten handelt.

Den Namen ZWINGLI habe ich in meiner Mär analysiert und herausgefunden, daß er den gleichen Ursprung hat wie die SCHWYZER.

BULLINGER selbst ergibt PLNCR, was sehr nahe bei PRCLTM, also PARACLETUM, Paraklet ist. Zwinglis Nachfolger also war ein Fürbitter Gottes, welcher den rechten Glauben in Zürich weiterführte und verteidigte.

Die Biographie Bullingers ist im Grunde keinen zweiten Blick wert. Es reicht zu erwähnen, daß jener Mann bereits mit achtzehn (!) Jahren Lehrer für neutestamentliche Exegese im Kloster Kappel (!) wurde. - Heutige Gelehrte können neidisch werden, denen es auch im fortgeschrittenen Alter nicht gelingt, trotz aller Meriten einen Lehrauftrag zu bekommen!

An Bullinger ist so wenig Historisches dran wie an Zwingli - beide sind pseudohistorische Schießbuden-Figuren. Sie sind als protestantische Kirchenväter geschaffen, welche dem Zürcher Bekenntnis eine geschichtliche und theologische Begründung liefern sollten.

Doch solche Zweifel und Einwände plagen niemanden unter den Organisatoren und Wissenschaftern, welch ihr Scherflein für diese ärgerliche Fiktion eines Jubiläums beitragen.

Die Medien, allen voran die rechtgläubige NZZ, tragen vielmehr nach Kräften dazu bei, um Bullinger auf dem Podest zu huldigen. Dabei ergeben sich groteske Einzelheiten.

Bullinger: ein protestantischer Säulenheiliger

Am 11. Juni 2004 brachte die NZZ als zweiten propagandistischen Beitrag zum Bullinger-Jubiläum einen Beitrag unter dem Titel "Der Mozart unter den Reformatoren". - Der große angebliche Kirchenmann soll nämlich wie Mozart schon in jungen Jahren gewußt haben, wohin seine Reise führe. - Das ist weiter nicht verwunderlich, weil fingierte Gestalten einen prädestinierten Lebensweg besitzen.

Doch dieser oben genannte unerhebliche Artikel ist mit einer Statue Bullingers illustriert. Diese steht gleich neben dem Eingang des Großmünsters. Hier wird augenfällig: Bullinger ist ein reformierter Säulenheiliger, mit den gleichen Attributen und der gleichen Verehrung wie die katholischen Heiligen.

Soll noch jemand behaupten, der Protestantismus habe die Heiligenverehrung abgeschafft und kenne keine Anbetung von Kirchenvätern! - Der Kult um fiktive Gestalten wie Luther, Zwingli, Bullinger und Calvin ist fast noch schmalziger als jener um katholische Glaubens-Größen.

Einem Schweizer Historiker wird das zum Beispiel bewußt, wenn er im Handbuch der Schweizer Geschichte, Band 1, Zürich 1972 die entsprechenden Kapitel über die Reformation liest, verfaßt von einem Zürcher namens Leonhard von Muralt (S. 431 ff.):

Der Text ist nicht zu überbieten an penetranter Ausführlichkeit und unkritischer Wiedergabe eines angeblichen Geschehens. Nirgends findet sich auch nur ein Anflug von Kritik oder wissenschaftlicher Zurückhaltung!

Wenn solche Texte auch unserer Epoche geschrieben werden können, so wird klar: Das alte Paradigma gilt noch heute. Die Einheit zwischen Staat und Kirche wird immer noch gepflegt. Keine gesellschaftlichen und politischen Veränderungen vermochten bisher, die Säulenheiligen des Zürcher Glaubens zu stürzen. - Man tut so, als gäbe es keinen Wandel. - Und kritische Einwände - außer diesen hier - gibt es nicht. Und auch dieser wird wohl im hohl tönenden Leerlauf der Bullinger-Jubiläums-Festivitäten untergehen.

"Ein Leben für die Reformation"

Den bisherigen Höhepunkt der Bullinger-Jubliäums-Manie liefert die NZZ in ihrer Literatur-Beilage vom 17./18.7.2004. Gleich drei Professoren und Wissenschafter kommen zu Wort, um jenen Zürcher Säulenheiligen zu würdigen.

Pünktlich zum Jubiläums-Jahr erschien ein Ergänzungsband zu den ersten zehn Bänden der Briefwechsel-Edition Bullingers.

Der betreffende Forscher hebt dabei hervor:

Bereits in den frühen Jahren ist die Weite und Dichte von Bullingers Beziehungsnetz beeindruckend.

Bereits als Dreißigjähriger soll Bullinger nämlich über dreihundert (!) Adressaten gehabt haben, darunter sämtliche Reformatoren, von Luther, Melanchthon und Calvin! - Von wo erhielt er die Adressen? - Arbeitete die damalige Post auch schon mit Postleitzahlen und Strich-Codes? Gab es schon damals Adress-Zentralen?

Die Quellengläubigkeit heutiger Forscher ist verbrecherisch.

Den Hauptbeitrag macht ein Artikel eines Professors Campi über Ein Leben für die Reformation aus - schön gruppiert um ein im Zentrum eingefügtes Bullinger-Porträt.

Die Eloge ist perfekt; Bullinger muß wirklich ein genialer, ein unglaublich produktiver, dabei weitsichtiger Kirchenmann, Prediger und Theologe - und eben Briefe-Schreiber - gewesen sein. Eine ganzseitige Würdigung scheint das Wenigste zu sein, was man jenem fiktiven Zürcher Kirchenvater darbringen kann.

Wie sehr dieser Bullinger-Panegyrikus auch sprachlich entgleist, zeigt ein Satz-Zitat von sage und schreibe 68 (!) Worten:

Heinrich Bullinger hat sich zeitlebens neben seinen vielfältigen Aktivitäten auf pastoraler, kirchenpolitischer und exegetisch-literarischer Ebene intensiv auch mit historischen Studien befaßt, ja er war ein Historiker von Format, der nicht nur die Geschichtsschreibung anderer förderte - z.B. die große Schweizer Chronik von Johannes Stumpf - sondern selber ein eindrückliches historiographisches Werk hinterließ, das mehrheitlich ungedruckt geblieben ist und bis heute noch nicht annähernd die verdiente Beachtung gefunden hat.

In dieser syntaktischen Monstrosität - gibt es bei der NZZ kein Lektorat? - ist dennoch ein wertvoller Hinweis drin: Bullinger steht zeitgleich zu Stumpf. Aber jener Chronist ist erst gegen 1730 plausibel. - Also gilt das auch für den Zürcher Kirchenvater.

Dann gibt es noch einen dritten Artikel von Thomas Maissen: Bullinger entdeckt Calvin. - Brav wird dort aus der Geschichte vom angeblichen Karl V. und dem Schmalkaldischen Krieg erzählt. Und man erfährt, daß sowohl Melanchthon wie Calvin um Pfingsten (!) "1548" sich in Zürich aufgehalten haben - doch leider jeder um einige Tage zeitverschoben!

Vielleicht kann man noch herausfinden, ob Calvin und Melanchthon bei ihrem Aufenthalt in Zürich im Hotel Dolder oder im Baur au Lac logiert haben!

Ein Detail aus geschichtskritischer Erkenntnis: Der Ortsname ZÜRICH kann erst vor vielleicht dreihundert Jahren geschaffen worden sein! - Man lese darüber den Artikel Zürich und der Üetliberg.

Beim letzteren Artikel-Schreiber ist anzumerken: Maissen, seines Zeichens Geschichts-Professor in Heidelberg, kennt meine Geschichts- und Chronologiekritik in der einen oder anderen Weise. - Aber offenbar aus Opportunismus bringt er gleichwohl die abgedroschene Geschichts-Leier von einer Reformations-Geschichte, die es inhaltlich und zeitlich nicht gegeben hat.

An wen richten sich solche einfältigen Lobhudeleien für eine sagenhafte Geschichts-Gestalt? An eine Masse von Leuten, die zufrieden sind, das zu hören, was sie schon hundert Mal gehört zu haben?

Wer Wissenschaft als dauernde kritische Überprüfung von Quellen, Meinungen und Darstellungen versteht, wird von diesen Beiträgen enttäuscht und verärgert werden.

Ich werde an die ärgerliche Übung des fiktiven 650-Jahr-Jubiläums des Eintritts Berns in die Eidgenossenschaft erinnert. Dazu wurde ein unförmiger, prachtvoller, aber in seiner Tendenz und Substanz empörender Jubiläums-Band publiziert unter dem Titel Berns mutige Zeit.

Eine neue alte historische Standortsbestimmung von Zürich

Das Image von Zürich als Wirtschaftsmetropole und innovatives Zentrum der Schweiz hat in den letzten Jahren im Gefolge von mehreren Groß-Pleiten und Skandalen einigen Schaden genommen.

Eine Strukturbereinigung kann nicht schaden und ist sogar von Zeit zu Zeit nötig.

Damit aber ein wirtschaftlicher Neuanfang oder eine Fortsetzung des wirtschaftlichen Erfolgs möglich ist, sollten auch die geistigen Grundlagen und Rahmenbedingungen überprüft werden.

Aber wie soll das geschehen, wenn Zürich gleichzeitig einer fiktiven historischen Grundlage ein Jubiläum zugesteht? Mit der Kirche ist heute kein Staat mehr zu machen - und der Staat kann sich nicht mehr auf den Glauben verlassen.

Doch verkrustete kirchliche, universitäre und öffentliche Institutionen tun so, also habe sich nichts geändert, als seien Zwingli und Bullinger noch heute die ideologischen Säulen des zürcherischen  Selbstverständnisses.

Die Bullinger-Festivitäten gehen an allen Tendenzen der Zeit vorbei. Sie wollen Phantome zum Leben erwecken, statt mit neuen Ideen Impulse geben.

Das Jubiläum um Bullinger ignoriert die aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Tendenzen der Gegenwart. Es stellt eine monumentale Selbstbefriedigung einer Gruppe etablierter Leute dar.

Besonders beschämt muß die offizielle Wissenschaft sein: Fällt ihnen zur älteren Geschichte wirklich nichts ein, als mit der Monotonie einer Gebetsmühle sagenhafte Heroen der Vergangenheit zu beschwören?

Weder Zwingli, noch Bullinger, noch die ganze Reformation hat es je gegeben. - Wie lange noch kann ein staatlich bezahlter und grotesk aufgeblähter Wissenschaftsapparat solche und andere Märchen dem Publikum für Wahrheit verkaufen?

Glauben die Leute selbst noch an die Dinge, die sie von sich geben?