Die Entstehung der Jahrzahl 1291

Beiträge zur Schweizer Historiographie: Stumpf - Schweizer - Daguet et al.

136 Seiten mit 4 Abbildungen und 9 Tabellen

Norderstedt: Books on Demand 2019

ISBN 978 373 47 86 30

(Historisch-philologische Werke 7)

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Herzog Leopold von Österreich

Kolorierte Abbildung aus der kleinen Schweizer Chronik von Johannes Stumpf

Man beachte das rundliche, mondförmige Gesicht mit der Löwenmähne: Der Löwenherzog = Leopold war launisch = mondsüchtig.

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Die Chiffre 1291

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist die Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft - damit auch der Nationalfeiertag am 1. August - untrennbar mit der Jahrzahl 1291 verbunden. Die Geschichtswissenschaft weiß zwar oder sollte wissen, daß dies vorher nicht der Fall war. Die Entstehung der Schwyzer Schwurgenossenschaft trug früher andere Jahrzahlen. Ein augenfälliges Beispiel sieht der aufmerksame Beobachter von historischen Denkmälern noch heute: Das Tell-Denkmal in Altdorf ziert noch immer die Jahrzahl 1307. Da fragt sich, wie es denn zu der Verwirrung der Daten gekommen ist.

Der Ursprung der Geschichtskonstruktion

In den letzten Jahren hat der Verfasser als neue historische Teildisziplin die Geschichts- und Chronologiekritik übernommen. Diese Betrachtungsweise ist in der westlichen Welt noch wenig bekannt, aber in seinem Ursprungsland Rußland schon eine Art wissenschaftliche Volksbewegung. Danach hört die glaubwürdige Geschichte und ihre Datierungen schon nach wenigen Jahrhunderten vor heute auf. Die älteste schriftliche Überlieferung ist deshalb unzuverlässig, sie ist biblische Geschichte, Kirchengeschichte und Sinngeschichte. Dasselbe gilt von den Jahrzahlen.

Die Geschichte vom Ursprung der Eidgenossenschaft, so wie wir sie kennen, ist deshalb eine fromme Legende mit einem wahren Kern. Alle alten Chroniken erzählen diese Sage gleich, also mit der Bedrohung der Waldstätte von außen, dem Schwurbund auf dem Rütli und dem anschließenden Burgenbruch, gekrönt durch die Befreiungsschlacht am Morgarten.

Der heutigen Öffentlichkeit ist wenig bekannt, daß die Daten, welche mit der Schwyzer Gründungssage verbunden werden, im Laufe der Zeit wechselten. Das heute gängige Datum 1291 brauchte anderthalb Jahrhunderte, um sich durchzusetzen.

Die erste Datum 1260

Als älteste kompakte chronikalische Darstellung der Schwyzer Geschichte ist das kleine Zeitbuch von Johannes Stumpf zu nennen, das die Jahrzahl "1554" trägt und nach Meinung des Verfassers etwa 270 Jahre vor heute entstanden ist. Stumpf und sein Umkreis setzen einen ersten Aufstand, damit die erste Bundesgründung der Waldstätte, in das Jahr 1260.

Dieses Datum wurde gewählt, weil damit nach zwölf Jahrhunderten die Teilung Helvetiens überwunden wurde: Nach dem gescheiterten Helvetier-Aufstand unter Kaiser Vitellius "um 70 nach Christus" soll das Land zwischen den Provinzen der Sequaner und der Rhätier aufgeteilt worden sein, mit der Reuss als Grenze.

Stumpfs Gründungsdatum 1314

Johannes Stumpf führt neben 1260 einen zweiten und endgültigen Befreiungskampf der Waldstätte ein. Diese noch heute gängige Gründungsgeschichte mit dem Rütli und Wilhelm Tell verbindet der Chronist mit der Jahrzahl 1314. Anlaß dazu soll die Unsicherheit und Zwietracht gewesen sein, die im Heiligen Römischen Reich nach der Doppelwahl eines Königs im Vorjahr entstanden war.

Chronologisch wirkt das Gründungsdatum 1314 stringent, weil es sich gut mit dem Folgejahr 1315 - der Befreiungsschlacht am Morgarten und der ersten schriftlichen Besiegelung des Schwurbundes in Brunnen – zusammenfügt.

Unbedingt ist dabei zu wissen, daß die Gründungsgeschichte der Waldstätte eine exakte Kopie der Befreiungsgeschichte von Bern ist. Vor den Waldleuten hat nämlich Bern die sogenannte Burgundische Eidgenossenschaft gegründet, diese gegen die Habsburger verteidigt und sich in einer Schlacht im Jahre 1291 endgültig befreit.

Schweizer (Suicerus) führt die Jahrzahl 1307 ein

Stumpfs Datierung der Gründungsgeschichte wurde bereits nach wenigen Jahren von dem Chronisten Johann Rudolf Schweizer oder Suicerus aus Zürich verändert. In seiner Helvetischen Chronologie (Chronologia Helvetica) datiert er die Entstehung des Schweizer Bundes ins Jahr 1307. Schweizer steht bereits Tschudi nahe, der das genannte Gründungsdatum übernimmt.

Aber bereits Stumpf und Schweizer nennen auch ein für die Waldstätte wichtiges Ereignis, das sie mit der Jahrzahl 1291 verbinden: In jenem Jahr bestätigt König Rudolf von Habsburg den Leuten von Schwyz zu Baden im Aargau ihre Vorrechte. - Alle drei Länderorte hatten nämlich bereits vorher kaiserliche Freiheiten erhalten.

Tschudi behält 1307, bereitet aber 1291 vor

Aegidius Tschudi in seinem Hauptwerk Chronicon Helveticum nun hält wie Schweizer zum Gründungsdatum der Eidgenossenschaft von 1307. Aber in Tat und Wahrheit bereitet er schon das Gründungsdatum 1291 vor. Dabei nimmt er folgende inhaltliche und chronologische Veränderungen an der Schwyzer Geschichtskonstruktion vor:

Zuerst streicht Tschudi das Datum 1260 als ersten Befreiungskampf der Waldstätte.

Dann schiebt er König Rudolfs Privileg an die Schwyzer beiseite. Dafür unterstreicht Tschudi, daß sich die Urkantone in diesem Jahre gegen die Anmaßungen von Albrecht von Habsburg gewehrt hätten. – Dabei wurde 1291 bekanntlich zuerst Adolf von Nassau römischer König, Albrecht erst 1298.

Und vor allem verschob Tschudi das Datum der endgültigen Befreiung Berns von den Habsburgern, das Gefecht am Donnerbühl oder Dornbühl, von 1291 auf 1298 und nannte den Konflikt fortan die Schlacht im Jammertal.

Die Entdeckung des Bundesbriefs 1291

Aegidius Tschudi hat also das Datum von 1291 vom Berner Kontext befreit und damit die Verknüpfung mit der Schwyzer Befreiungsgeschichte vorbereitet.

Nun folgte um 1760 die Entdeckung des lateinischen Gründungsdiploms der Eidgenossenschaft von 1291. Da ist zu sagen, daß die Urkunden nach den Chroniken geschrieben wurden. Das ist der Grund, weshalb sich Chroniken und Urkunden in ihren Datierungen und Inhalten widersprechen. Der berühmte Bundesbrief hat deutliche Merkmale einer Entstehung nach Tschudi, zu Beginn der Aufklärung: Es fehlt ein präzises Datum und der Ausstellungsort; und der Inhalt ist für eine Urkunde verdächtig vage.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Jahrzahl 1291 wird offiziell

Lange Zeit hat der Bundesbrief und das Datum 1291 die Geschichtsschreibung nicht beeinflußt. Bis tief ins 19. Jahrhundert blieb es beim Gründungsdatum 1307, vor allem auch wegen der Schweizergeschichte des Schaffhausers Johannes von Müller. Dessen Darstellung der Ursprünge der Eidgenossenschaft beeinflußte bekanntlich Friedrich Schiller.

Der Umschwung kam erst ab 1835 durch den Luzerner Urkundenforscher Joseph Eutych Kopp. Dieser publizierte unter anderem den Bundesbrief erneut und erschütterte damit das traditionelle Bild und Datum der Schwyzer Gründungsgeschichte.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich das neue Datum 1291 und der Bundesbrief als Stiftungsurkunde der Eidgenossenschaft durch. Der erste, welcher das neue geschichtliche Konzept verfocht, war der aus Freiburg stammende Neuenburger Professor Alexandre Daguet. Nach ihm haben die patriotischen Nationalhistoriker Johannes Dierauer, Karl Dändliker und Wilhelm Oechsli die neue Jahrzahl 1291 aufgenommen. Diese Männer haben auch erwirkt, daß 1891 die Schweizerische Eidgenossenschaft offiziell eine sechste Zentenarfeier der Gründung des Schwyzer Bundes veranlaßte und der erste August zum Nationalfeiertag erklärt wurde.

Karl Meyer und die Monumentalisierung der Gründungsgeschichte 1291

Das Gründungsdatum 1291 ist wissenschaftlich nur zu begründen, indem man es mit der Logik und den Quellen nicht zu genau nimmt und sich interpretatorisch sehr weit hinaus wagt. Wie zum Beispiel erklärt man eine Gründungsurkunde von 1291, wenn die Chroniken ausdrücklich sagen, der eidgenössische Bund sei 1315 ein erstes Mal schriftlich festgehalten worden?

Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hat der Zürcher Historiker Karl Meyer Daguets Konzept ohne ihn zu nennen oder zu kennen, zu einem scheinbar unumstößlichen Dogma erhoben. Nun wurde die Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft endgültig mit der Jahrzahl 1291 verbunden. Auch hat man den Bundesbrief 1291 zu einer nationalen Profanreliquie erhoben und ihm 1936 in Schwyz ein eigenes Gebäude geweiht.

Die Monumentalisierung und Überhöhung der Schwyzer Gründungslegende und der damit verbundenen Jahrzahl 1291 sind seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zurückgefahren worden. Das Bundesbriefarchiv heißt jetzt Bundesbriefmuseum. Doch 1291, das Rütli und Wilhelm Tell stehen noch immer wie erratische Blöcke in einer stark veränderten historisch-politischen Landschaft.

Nicht die Daten, die wahren Ursprünge des Schweizerbundes sind zu erforschen

Die Geschichtswissenschaft mit ihren benachbarten Zweigen huldigt einem eigentlichen Datierungswahn. Die Plausibilität eines Ereignisses scheint weniger wichtig, als die pseudogenaue Datierung. Der Sachverhalt ist grotesk: Die Inhalte werden für wahr gehalten, weil sie mit Daten versehen sind. Die Jahrzahlen blockieren die kritische Betrachtung der geschichtlichen Zusammenhänge.

Für eine Untersuchung der wahren Ursprünge der Schweizer Schwurgenossenschaft gilt das Gleiche: Sogar konventionelle Historiker sind heute unglücklich über das vermeintlich exakte Gründungsdatum 1291. Sie sehen die Ausbildung der Schwyzer Schwurgenossenschaft eher im Spätmittelalter und in der Renaissance. – Und auch die Gegend um den Vierwaldstätter See als Ursprungsregion der Eidgenossenschaft wird grundsätzlich in Frage gestellt. Es heißt, man sollte die Rolle der Städte (Bern, Zürich, Basel) für die Entstehung des Bundes stärker gewichten.

Aber solche neuen Deutungsansätze brauchen eine andere historische Betrachtungsweise. Die Geschichts- und Chronologiekritik ist gefragt. Die Datierungen und die chronikalischen Inhalte sind hintanzusetzen zugunsten einem neuen Entwurf, der sich an der Plausibilität und der Evidenz orientiert. Das Rütli, Wilhelm Tell, der Burgenbruch und Morgarten mögen lange eingeschliffene Geschichten sein, aber die wahre Geschichte dahinter ist anders.