Die alten Eidgenossen
Die Entstehung der Schwyzer
Eidgenossenschaft im Lichte der
Geschichtskritik und die Rolle Berns
Cover-Bild:
Berner
Bannerträger anläßlich des Festumzugs von 1853
aus:
Peter Jezler/Peter Martig
Von Krieg
und Frieden
Bern und die Eidgenossen bis 1800
Bern 2003, 4
Titel-Bild:
Gebet der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten
Monumental-Gemälde
von Auguste Bachelin, 1869
Schweizer
Privatbesitz
Vergleiche den Kommentar auf Seite 10.
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© 2022 Christoph Pfister
Herstellung und Verlag:
Books on Demand, Norderstedt
ISBN 9783756821815
Mottos
Was wollen wir der alten Griechen Gedichte,
oder der Römer lesen manche Geschichte?
Wir haben hier die Taten der Eidgenossen,
von denen wir uns rühmen sein entsprossen:
Dies sind lauter große Heldensachen,
die uns billig zur Nachfolge lustig machen [=
anleiten]:
In Treue, Liebe und Glauben nüchtern und ehrbar
leben!
Johann
Jakob Grasser: Schweizerisches Heldenbuch
(Schweitzerisch Heldenbuoch), Basel
„1624“. Neudruck Bern 1968.
Als Demut
weint und Hoffahrt lacht, da ward der Schweizer Bund gemacht.
Michael Stettler: Chronicon und Annales,
Bern „1627“, S. 29
Il faut avouer que
l’histoire de la pomme est bien suspecte et que tout ce qui l’accompagne ne
l’est pas moins.
Man muß einsehen, daß die Geschichte des
Apfelschusses sehr verdächtig ist und der ganze Rest der Erzählung ebenso.
Voltaire : Annales de l’Empire I (zum Jahr 1307)
(Übersetzung: Autor)
Wir sind in Ansehung der Geschichten unseres
Vaterlands auf eine zweifache Weise unglücklich. Nichts fehlt uns weniger als
Geschichtsschreiber: Nichts haben wir weniger als gute Geschichtsschreiber. Von
unseren ältesten Zeiten haben wir keine gewissen Nachrichten. Die ersten zwei
Jahrhunderte unserer Stadt brachten keine Geschichtsschreiber hervor. Die neuen
Zeiten hingegen haben viele, allein nur seichte Nachschreiber gezeugt, welche
den Namen eines Geschichtsschreibers mißbraucht und entheiliget.
Gottlieb Walther: Critische Prüfung der Geschichte von Ausrottung des Zäringischen Stamms durch Vergiftung zweier Söhnen Berchtolds V.; Bern 1765; Vorrede
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AC bedeutet ante Christum (natum) = vor Christi Geburt
AD bedeutet Anno Domini = im Jahre des Herrn = nach Christi Geburt
Die fremdsprachigen (inbegriffen
altdeutschen) Zitate sind vom Autor übersetzt worden.
Die Bibelzitate folgen der Zürcher
Bibel von 1955.
Ältere deutsche Zitate sind soweit
wie möglich dem heutigen deutschen Sprachgebrauch angepaßt worden.
Die Epochenbezeichnungen der älteren
Zeit, besonders „Altertum“ und „Mittelalter“ sind wegen ihres problematischen
Charakters grundsätzlich in Anführungszeichen gesetzt.
Ebenso sind alle Datumsangaben vor
dem 18. Jahrhundert nach Christus, „9. Jahrhundert nach Christus“, „1291“,
wegen ihrer Irrelevanz grundsätzlich in Anführungszeichen gesetzt.
Von Ausnahmen abgesehen wird von den Schwyzern geredet, wenn die Schweizer
Eidgenossen gemeint sind. Dies deshalb, weil die erstere Form den religiösen
Ursprung der Bezeichnung deutlicher hervortreten läßt. – Wenn damit die Leute
und die Talschaft von Schwyz gemeint sind, so wird das im Text besonders
vermerkt.
Falls lateinische Wörter und Namen
auf ihre dahinterstehende Bedeutung untersucht werden, so ist vorweg zu
bemerken, daß man bei der Analyse Akkusativ und Nominativ auseinanderhalten muß:
MITHRIDATEM - Mithridates, -
CALAMITATEM - calamitas oder – TYRUM
- Tyrus. – Der Akkusativ ist
wichtiger als der Nominativ, weil die am meisten gebrauchte Form in der Deklination.
Der vielfach genannte Berner
Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts, Michael
Stettler soll nicht mit dem gleichnamigen Berner Kunsthistoriker des 20.
Jahrhunderts (Bücher: Bernerlob, Neues
Bernerlob) verwechselt werden.
Erster Teil: Hinführung zum
Thema
Die alten Eidgenossen: eine
Wundermär?
Die wundersame Entstehung der
Eidgenossenschaft
Das Bundesbriefmuseum in Schwyz
Die Stiftsbibliothek Sankt Gallen
Hie Schweizerland, hie Bern!
Die Geschichte Berns von Richard Feller
Berns mutige, große, mächtige und
goldene Zeit
oder der Bankrott der Berner Geschichtsforschung
Zweiter Teil:
Quellen, Daten, Kunst, Bauwerke
Die große Geschichtserfindung und
ihre Matrix
Justinger und die Berner Chronistik
der beiden Stettler
Der
Justinger-Anshelm-Stettler-Komplex
Die Helvetische Chronologie (Chronologia
Helvetica)
von Johann Heinrich Schweizer (Suicerus)
Johannes Stumpf und seine große und
kleine
Schwyzer Chronik
Ägidius Tschudi und die
eidgenössische Chronistik
Die Berner und Schwyzer
Bilderchroniken
Die Dark Ages in der
Schweizer Kunstgeschichte
zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert
Diebold Schillings Jammertal-Bild
und das
pompejanische Mosaik der Alexanderschlacht
Überlegungen zur Baugeschichte und
Architektur
Städtegründungen und Zähringer
Dritter Teil:
Geschichte und Geschichten
Julius Caesar, die Helvetier und
Aventicum
Baselwind = Belisar &
Amalasuntha
Von der Matte ins Jammertal:
der zweite Teil von Berns Troja-Geschichte
Woher stammt die Burgunderbeute?
Karl der Kühne, Alexander der
Grosse und die Eidgenossen
Alexander der Grosse, Karl der
Kühne, Mithridates, Aspendus,
Gordion, Aarberg und die Nibelungen
Sempach, eine Jesus-Geschichte
Weitere Kriege der Eidgenossen, von
Näfels bis Bicocca
Der Schwabenkrieg oder die
Loslösung der Eidgenossen
vom Römischen Reich
Sinnzahlen in der älteren
Geschichte der Eidgenossen
Reformation oder Glaubensspaltung?
Berner und Schwyzer Eidgenossenschaft
Der Schütze Ryffli und der Schütze
Tell
Gründungssage und Wilhelm Tell im
Urteil einiger Historiker
Das Rütli, Wilhelm Tell und Gessler
Elemente einer möglichen wahren
Entstehung
der Schwyzer Eidgenossenschaft
Für ein neues historisches
Selbstverständnis der Schweiz
Abbildungen
Abbildung 1: Hie Eidgenossenschaft -
Die Schlacht am Morgarten
Abbildung 3: Das Berner Predigt-Mandat von "1523"
Abbildung 4: Zwei römische Inschriften aus Helvetien
Abbildung 5: Der Freiheitsbrief der Schwyzer von
"1240"
Abbildung 6: Das sogenannte Weiße Buch von Sarnen
Abbildung 7: Zwei kolorierte Abbildungen aus der kleinen
Chronik von Johannes Stumpf
Abbildung 8: Pompeji: Mosaik der Alexanderschlacht (Detail)
Abbildung 9: Spiezer Schilling: Die Schlacht im Jammertal
Abbildung 10: Alte Strukturen unter der Kathedrale
Saint-Pierre in Genf
Abbildung 11: Das Grossmünster in Zürich auf einem Gemälde
von Hans Leu dem Älteren
Abbildung 12: Spiezer Schilling: Die Vergiftung der Kinder des
letzten Herzogs von Zähringen
Abbildung 14: Die Flußschleifen der Aare von Bremgarten und
der Enge bei Bern
Abbildung 15: Titelbild der Festschrift zum Jubiläum der
Laupen-Schlacht 1939
Abbildung 17: Spiezer Schilling: Englisches Reiterheer
vor Straßburg im Elsaß
Abbildung 18: Antonius-Figur aus dem Berner Skulpturenfund
Abbildung 19: Brunnenfigur von Wilhelm Tell in Schaffhausen
Abbildung 20: Brunnenfigur von Ryffli in Bern
Abbildung 21: Ernst Stückelberg: Wilhelm Tell und sein Sohn
Abbildung 22: Die Kantonsgrenzen von Solothurn
Tabellen
Tabelle 2: Die Parallelen zwischen dem Laupenkrieg und dem
Murtenkrieg
Tabelle 3: Die Parallelen zwischen Alexander dem Grossen, Karl
dem Kühnen und den Eidgenossen
Tabelle 4: Numerologisch bedeutende Daten aus der Geschichte
der alten Eidgenossen
Tabelle 5: Die Lebensdaten von Hildebrand - Gregor VII.
Tabelle 6: Christus-Chronogramme in der erfundenen Geschichte
der alten Eidgenossen
Tabelle 7: Die Parallelen zwischen der Befreiungsgeschichte Berns und der Waldstätte
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Zur Titel-Abbildung: Auguste Bachelin, Gebet der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten
Die Geschichtsmalerei
als Teilgebiet der bildenden Kunst erlebte im 19. Jahrhundert mit den geistigen
Tendenzen des Historismus eine Hochblüte. Es wurden bevorzugt Motive aus der
erfundenen antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte genommen.
Der Neuenburger Maler
Auguste Bachelin (1830 – 1890) leistete mit einigen seiner Werke einen
wichtigen Beitrag zu den historischen Vorstellungen im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts.
1867 hielt er in zwei
Gemälden das Leben der Pfahlbauer im Gebiet von La Tène am Neuenburger See
fest. So gab er der damals durch die Entdeckungen an verschiedenen Schweizer
Seeufern entflammten Pfahlbau-Begeisterung eine illustrative Grundlage.
Das hier abgebildete,
1869 entstandene Monumentalgemälde Gebet
der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten verdient ein paar
Erläuterungen.
Die gelungene
Komposition und die ausgewogene Farbigkeit des Bildes verdienen hervorgehoben
zu werden. Das Gemälde ist eindrucksvoll, aber weder schwülstig noch
pathetisch.
Bachelin scheint für
seine Darstellung klassische Vorbilder verwertet zu haben: Die Übergabe von Breda von Velazquez und das Alexander-Mosaik aus
Pompeji scheinen durch.
Das Dekor entspricht
dem, was man sich damals unter einer bestimmten Geschichte vorstellte, ist also
zutiefst unhistorisch: Die fast unheimlich großen Fahnen verraten die Zeit der
Entstehung. – Die Rüstungen, die mehrere Krieger tragen, sind wohl nie im Kampf
verwendet worden. – Die Langspeere, welche die Silhouette des eidgenössischen
Harsts bilden, sind Entlehnungen aus chronikalischen Schlacht-Illustrationen.
Nach Bachelin ist die
Schweizer Historienmalerei für Jahrzehnte in teilweise unerträglich schwülstigen
Pathos und in leere Monumentalität hinabgesunken. Das belegen etwa die Gemälde
von Karl Grob oder Eugène Burnand. – Das bekannte Murtenschlacht-Panorama von
Louis Braun 1893 markiert den Gipfel einer degenerierten
Geschichtsillustration.
Das Gemälde von Bachelin war bis 2005 im Speisesaal des Hotels Weißes Kreuz in Murten zugänglich. Nach dem Verkauf der Liegenschaft kam das Bild in Privatbesitz.
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Erster Teil: Hinführung zum Thema
Die ältere Vergangenheit der Schwyzer Eidgenossen ist sicher schon vielen merkwürdig vorgekommen. Man denkt an den Rütlischwur, an Wilhelm Tell und vor allem an glorreiche Schlachten, von Morgarten über Murten bis Marignano.
Bis ins 16. Jahrhundert soll diese alteidgenössische Heldenzeit gedauert haben. Nachher veränderte sich das Bild grundlegend. Die Reformation kam und damit wurde die Geschichte der Schweiz plötzlich ereignisarm. Sicher erlebte auch die alte Eidgenossenschaft vor 1798 bedeutsame Augenblicke. Aber es waren vor allem innere Konflikte: der Bauernaufstand von 1653, die Villmerger Bruderkriege von 1656 und 1712, die Verschwörung des Majors Davel in der Waadt gegen die Berner Regierung und der Aufstand der Livinen - Leventina gegen ihre Urner Herren.
Bisherigen Forschern ist der rätselhafte Unterschied zwischen alter Heldenzeit und neuerer Ereignislosigkeit in der Schweizer Geschichte ebenfalls aufgefallen:
Das 17. Jahrhundert ist die Stille zwischen der Reformation und der Aufklärung (Richard Feller in: Nabholz: Geschichte der Schweiz, II, 5).
Weshalb hört der Schlachtenlärm der alten Eidgenossen plötzlich auf? – Steht dahinter vielleicht nur eine falsche Geschichte?
Man merkt ein Unbehagen angesichts der älteren Schwyzer Geschichte. Diese wird deshalb seit Jahrzehnten zurückgefahren. Große patriotische Feiern unterbleiben. Es wird nur noch wenig auf alteidgenössische Tugenden zurückgegriffen. In den Schulen befindet sich das Fach Geschichte auf dem Rückzug. Die Zeitgeschichte ersetzt die ältere Vergangenheit. Gleichlaufend nimmt das Interesse an den alten Sprachen, also Latein, Griechisch und Hebräisch ab. – Der Zugang zur älteren Geschichte unseres Landes wird immer schmäler.
Mit der Geschichte befassen sich Historiker. Spüren diese den Wandel und was meinen sie zu den Ursachen der breiten Abwendung von den alten Geschichten?
Man
merkt tatsächlich, daß die veränderte weltpolitische Lage nach 1989 und das
angefochtene Bundesjubiläum von 1991 sich in der historischen Diskussion
niedergeschlagen haben. Die Geschichte der alten Eidgenossen steht nicht mehr
felsenfest; sie wird hinterfragt. Dabei geht es längst nicht mehr um die
angebliche Existenz von Nationalhelden wie Wilhelm Tell, sondern um die Frage,
ob das Gesamtbild richtig sei.
Wenn
der Historiker Roger Sablonier 1999 schreibt: Die sogenannte eidgenössische Staatsgründung von 1291 … ist eine Figur
des politischen Diskurses, nicht der historischen Argumentation (Sablonier:
Schweizer Eidgenossenschaft, 34), so
werden damit die Fundamente unserer Überlieferung und des schweizerischen
Geschichtsbildes in Frage gestellt. Es wird zugegeben, daß die ältere
Geschichte der Eidgenossen nicht stimmt, daß sie aus Sagen und Legenden
zusammengesetzt ist.
Noch
deutlicher drückte sich schon früher Marcel Beck aus, der seine Festschrift zu
seinem 70. Geburtstag mit Legende, Mythos
und Geschichte betitelte und dabei die Epoche der alten Eidgenossen meinte
(Beck, 1978).
Aber
das überlieferte Bild der alten Eidgenossen besteht noch immer. Eine Revision
wird gefordert, aber nicht ausgeführt:
Eine Abwendung von diesem
Geschichtsbild hat im öffentlichen Bewußtsein trotz aller Kritik bis heute noch
nicht stattgefunden, schreibt der Ägidius Tschudi-Herausgeber Bernhard
Stettler (Stettler: Tschudi-Vedemecum,
67).
Es
harzt bei der Umsetzung der Forderung. Es langt offenbar nicht, „neue
Fragestellungen“ zu erfinden. Das ist schon mehrmals geschehen. Zuerst mit der
Rechtsgeschichte, dann mit wirtschaftsgeschichtlichen und soziologischen
Ansätzen versuchte man, die ältere Schwyzer Geschichte zeitgemäß zu
interpretieren.
Hier
vergißt man, daß es keinen Zweck hat, Retouchen an dem herkömmlichen Bild zu
machen. Neue methodische Möglichkeiten
und Einsichten fordert der erwähnte Roger Sablonier (Sablonier: Bundesbrief, 134). Doch wichtiger wäre
eine grundsätzliche Kritik an der Überlieferung.
Dazu
ist es aber außer in kleinen Ansätzen nicht gekommen. Bisher fehlten der Wille
und vor allem die richtigen Werkzeuge, um die ältere Geschichte der Schwyzer
Eidgenossen richtig anzugehen.
Als
Schüler hat mich ein kleines Werk beschäftigt und wurde mir zu einem Einstieg
in die Welt der alten Eidgenossen. Das 62 Seiten starke Büchlein im Format 12
mal 19 cm ist in weißes Leinen eingebunden und trägt ein Schweizerwappen auf
der vorderen Seite oben rechts. Wenn man das kleine Werk in der Hand hält,
möchte man an einen Reisepaß denken. – Aber die Verbindung war vielleicht
bewußt gesucht worden: Es sollte ein Paßbüchlein oder ein weltliches Brevier
sein für den aufrechten Schweizerbürger.
Hie Eidgenossenschaft, wie der
Titel des kleinen Werkes lautet, ist 1941, in politisch schwieriger Zeit und im
Jahr des 650-Jahr-Jubiläums der Bundesgründung erschienen. Geboten wird ein Abriß
der Schweizer Geschichte von den Helvetiern bis 1939 in Form von einzeln
abgeschlossenen und mit je einer Illustration versehenen Seiten. Als Autor
nennt sich ein Edgar Schumacher, der seines Zeichens Oberst war.
Die
Bilder – sämtlich kolorierte Holzschnitte - stammen von dem Künstler Paul
Boesch. Letzterer war in den 1940er Jahren ein gefragter Illustrator und hat auch
historische Briefmarken gestaltet (Abbildung 33).
Der
Inhalt ist in drei Abschnitte eingeteilt: Helvetier, Eidgenossen, Schweiz. Drei
Seiten sind den Helvetiern gewidmet, der Hauptteil den Eidgenossen und der
letzte Teil mit sechs Seiten der modernen Schweiz ab 1848.
Was
mich an diesem Büchlein damals am meisten beschäftigte, waren die Schlachten
der Eidgenossen, die auch das Kernstück ausmachen. Nach dem Bund von „1291“
findet sich bis zur Reformationszeit eine fast ununterbrochene Reihe von Schlachten
und Kriegen dargestellt: Morgarten, Laupen, Sempach, Näfels, Vögelinsegg,
Arbedo, Greifensee, Sankt Jakob an der Birs, Grandson, Murten, Giornico,
Calven, Marignano, Kappel. Nur das Konzil von Konstanz und das Stanser
Verkommnis unterbrechen die lange Kette von Kämpfen und Schlachten.
Nach
der Reformation wird es ruhiger. Nur der Bauernkrieg, die Escalade von Genf,
die Villmerger Kriege – letztere sonderbarerweise zu einer Seite zusammengefaßt
– und die Verteidigung der Tuilerien werden als kriegerische Ereignisse bis zum
Einmarsch der Franzosen 1798 erwähnt.
Hie Eidgenossenschaft ist
gerade dadurch für das vorliegende Problem aufschlußreich, weil es einen Abriß
der Schweizer Geschichte in gewaltiger Verkürzung bietet und einem kritischen
Betrachter um so deutlicher die absurde historische Konstruktion aufzeigt.
Es
beginnt schon bei den angeblichen Ureinwohnern der Schweiz, den „Helvetiern“.
Da soll Julius Caesar dieses tapfere Volk „58 AC“ in Gallien besiegt und ihm
befohlen haben, in seine Heimat zurückzukehren.
Dann
gibt es eine undatierte Seite über das friedliche Leben in dem prachtvollen
„römischen“ Aventicum und – ebenfalls undatiert – eine Erwähnung der
christlichen Durchdringung Helvetiens.
Das
erste, mit einer eindeutigen Jahrzahl versehene Geschichtsblatt ist die
Gründung Berns „1191“. – Nach genau hundert Jahren folgt die Beschwörung des
ewigen Bundes auf dem Rütli. Dann beginnt mit Morgarten „1315“ die Reihe von
glorreichen Kämpfen und Schlachten der Eidgenossen.
Studiert
man das in diesem patriotischen Brevier von 1941 gebotene Geschichtsbild
genauer, kommen erste und grundsätzliche Fragen.
Da
fällt zum Beispiel die gewaltige Zeitlücke auf zwischen den Helvetiern oder
Römern und der Gründung Berns.
Vor
1900 Jahren soll Helvetien unter römischer Herrschaft geblüht haben und vor 1700
Jahren von den barbarischen Alamannen verheert worden sein. Zwischen dem Ende
des prächtigen Aventicum und der Gründung des „mittelalterlichen“ Bern liegen
aber acht- bis neunhundert Jahre, in welchen es offenbar im Lande nichts, aber
auch gar nichts gab: kaum Menschen, keine Kultur, keine verläßlichen Überlieferung.
Gab
es wirklich einen solchen Leerraum, oder ist das nur ein durch eine falsche Chronologie hervorgerufener virtueller Irrtum?
Und die kriegerische Vergangenheit der alten
Eidgenossen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert? Ist sie wahr oder nur das
schriftlich niedergelegte Ergebnis von barocken Geschichts- und
Heldenphantasien?
Bei den alten Schwyzer Eidgenossen fällt zum
Beispiel auf, daß diese zwar viel gekämpft haben, die Früchte ihrer Kriege aber
mehr als mager und teilweise sogar ungünstig ausfielen.
Abbildung
1:
Hie Eidgenossenschaft -
Die Schlacht am Morgarten
Holzschnitt von Paul
Boesch
aus: Hie Eidgenossenschaft, Bern 1941, 16
Kaum eine
alteidgenössische Schlacht ist im populären Bewußtsein so bekannt wie
Morgarten. – Man weiß zumindest, daß dort die Schwyzer Bauern gegen ein
adeliges Heer der Österreicher oder Habsburger unter einem Herzog Leopold einen
prächtigen Sieg errungen haben.
Auch die Taktik der
Waldstätte ist ungefähr bekannt: Man lockte das feindliche Heer zu einem Engpaß
am Aegeri-See und überfiel es dort. Dabei ließ man Felsblöcke und Baumstämme
über die steilen Talhänge hinunterrollen. Die Ritter mit ihren Pferden wurden
dadurch verwirrt, die Ordnung des Heeres kam durcheinander, viele Feinde wurden
erschlagen oder ertranken im See.
Eine alle zwei Jahre
gefeierte Schlachtjahrzeit erinnert an das angebliche Ereignis.
Dabei sind die
heutigen Historiker grundsätzlich offen: Unsere
Kenntnisse der Schlacht sind recht mangelhaft (Handbuch der Schweizer Geschichte, I, 189). – Das heißt im
Klartext: Die Schlacht von Morgarten ist eine Geschichtserfindung.
Ein Ortstermin am
Morgarten zeigt, daß sich der Kampf unmöglich so abgespielt haben kann wie das
obige Bild behauptet: Steilhänge nämlich, um Baumstämme und Blöcke herunter zu rollen,
gibt es in der fraglichen Gegend am Aegeri-See keine.
Eine kritische
Analyse der Quellen zu Morgarten zeigt, daß diese Schlacht ein
Parallel-Ereignis aus der erfundenen Berner Geschichte ist. Zuerst schlug Bern
eine glorreiche Schlacht gegen die Habsburger. Die Waldstätte übernahmen diese
angebliche Heldentat und wandelten sie entsprechend ab.
Die Schlacht bei
Morgarten ist übrigens nach einer fiktiven antiken Schlacht gestrickt:
Bekanntlich hätten die Griechen im Engpaß der Thermopylen ein zahlenmäßig
überlegenes Heer der Perser zwar nicht zurückgedrängt, aber doch mit
heldenhaftem Mut aufgehalten.
Und im biblischen
Buch Judith werden die Vorbereitungen des Gebirgslands Israel zur Abwehr der
Assyrer gleich geschildert wie die der Waldstätte gegen die Habsburger (Judith,
4, 1 ff.).
Der Holzschnitt von
Paul Boesch von 1940/41 hat künstlerische Qualitäten. Er verwertet geschickt
Anleihen von alten Schweizer Holzschnitten – etwa aus Petermann Etterlin – mit
der neuen Sachlichkeit der 1930er Jahre.
Paul Boesch entwarf
zu dieser Zeit auch eine Briefmarke zum Jubiläum der Stadt Bern (Abbildung 24).
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So
haben die Eidgenossen die Burgunderkriege zwar siegreich beendet, aber im
Ergebnis nicht einmal die Waadt gewonnen. – Das ist doch reichlich merkwürdig!
Und
da in Hie Eidgenossenschaft jede
Seite mit einer genauen Jahrzahl versehen ist, könnte man auch dort Argwohn
schöpfen.
Ist
es bloßer Zufall, daß die Eidgenossenschaft „1291“, also genau hundert Jahre
nach der angeblichen Gründung Berns „1191“ geschaffen wurde?
Dann
die nachreformatorische Geschichte der alten Eidgenossenschaft.
Wie
gesagt gab es auch da kriegerische Auseinandersetzungen. Aber es waren allesamt
Bruderkriege, Bürgerkriege und Aufstände einzelner Regionen, Gruppen und
Personen. Diese Dinge sind viel weniger glorreich als die
„spätmittelalterliche“ Heldengeschichte der Schwyzer Eidgenossen und werden
deswegen auch weniger gern behandelt und beschworen.
Es
gibt eine Sempacher Schlachtjahrzeit und eine Solennität in Murten, aber keine
solche für die Villmerger Kriege.
Und
weder der Ort Villmergen noch Samuel Henzi haben je ein Denkmal bekommen.
Dagegen
hat man im 20. Jahrhundert sogar für das unbedeutende Geplänkel von Giornico am
Rande des dortigen Tessiner Dorfes ein pathetisches Schlachtenmonument
errichtet (Pfister: Historische Denkmäler
in der Schweiz).
Als
Fazit ergibt sich, daß nur die in unwirklicher Ferne angesiedelte erfundene
Schwyzer Geschichte Stoff abgibt für Heldentaten und Glorienschein, nicht aber
die wahre Überlieferung der letzten zwei bis drei Jahrhunderte.
Einen
Jugendlichen mögen die knappen Texte und die eindrucksvollen Bilder von Hie Eidgenossenschaft faszinieren; und
die schwierige Lage der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges rechtfertigte
vielleicht das Erscheinen des Büchleins. Aber heute ist dieses ein Anstoß, an
der älteren Geschichte der Eidgenossen zu zweifeln.
Seit
den 1940er Jahren gab der Berner Verlag Paul Haupt die Schweizer Heimatbücher heraus. – Parallel dazu wurde auch eine Reihe
Berner Heimatbücher geführt.
Bis
in die 60er Jahre sind in jenen gleichlaufenden Reihen eine stattliche Anzahl
Titel herausgekommen, alle mit ganzseitigen Illustrationen und schmalem Text.
Bei
den Schweizer Heimatbüchern reicht die Themenvielfalt von Gottfried Keller über
das Puschlav, den Greifensee, Schwyzer Bauernhäuser bis zu den Brissago-Inseln
und die Luzerner Volkskunst.
Bei
der Berner Reihe gehen die Titel vom Emmentaler Bauernhaus über bernische
Landsitze, das ehemalige Kloster Münchenwiler, den Tierpark Dählhölzli bis zu
Niklaus Manuels Totentanz und den Hohgant, die Bergkrone des Emmentals.
Vor
kurzem entdeckte ich in der Schweizer Reihe einen Titel Ursprung der Freiheit. Historische Stätten in der Urschweiz.
Die
1965 erschienene Broschüre von Georges Grosjean verdient als kurze
Zusammenfassung der Schwyzer Gründungslegende aus jener Zeit besprochen zu
werden.
Der
Verfasser war Professor für Geographie an der Universität Bern. Als solcher
befaßte sich Grosjean auch mit historischen Themen. Unter anderem forschte er
über die römische Landvermessung in der Schweiz.
Als
Anlaß des schmalen Buches wird das 650-Jahr-Gedächtnis der Schlacht am
Morgarten und des Bundesschwurs zu Brunnen „1315“ genannt.
Ursprung der Freiheit gibt
zuerst die Quelle für die Bundesgründung der Waldstätte, die entsprechenden
Passagen des Weißen Buchs von Sarnen wieder.
Anschließend
wird der angebliche Freiheitskampf im Lichte der Urkunden und der modernen
Geschichtsforschung beleuchtet.
Fazit
dieser Übersicht ist für den Verfasser: Durch
die neuesten Forschungen haben die Erzählungen der Bundeschronik ihren Platz in
der Geschichte zurückerhalten. Rütli und Hohle Gasse, Tellenplatte und das
Gemäuer der alten Burgen sind geschichtlicher Boden und mit der Bundesgründung
verknüpft (22).
Abbildung
2: Titelseite von Wilhelm Oechsli: Die Anfänge der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, Zürich 1891
Das Datum der Gründung der Schwyzer
Eidgenossenschaft
Im 19. Jahrhundert
hat sich eine historische Festkultur entwickelt – auch in der Schweiz.
Bedeutsame Jahrzahlen wurden mit Festen gefeiert und dabei oft Denkmäler
enthüllt.
1891 war der heutige
Bundesstaat 43 Jahre alt. Mit großem Aufwand wurde das angeblich 600-jährige
Jubiläum der Gründung der Schweizer Eidgenossenschaft gefeiert.
Der Historiker
Wilhelm Oechsli bekam vom Bundesrat den Auftrag, für den Anlaß ein Buch zu
schreiben.
Der Inhalt ist nicht
sehr erhebend. Das Werk gibt nur Altbekanntes wieder.
Einen Wert hat jedoch
das Titelbild des Jubiläumsbuches. Es zeigt, wie damals alte Geschichte in
Szene gesetzt wurde.
Der Titel des Buches
spricht den ersten ewigen Bund der Eidgenossen vom „1. August 1291“ an.
1891 war eine Feier
für ein pseudohistorisches Ereignis, aber gleichzeitig auch das Stiftungsjahr
für den heutigen Schweizer Nationalfeiertag.
Die Zentenarfeier von
1891 markiert eine historiographische Wende in der Schweiz, nämlich die
Rückverlegung des Gründungsjahres der Eidgenossenschaft. Bis dahin galt 1307
als Ursprungsdatum. - Noch auf dem bekannten Tell-Denkmal von Altdorf ist diese
Jahrzahl eingemeißelt.
Wie kam es zu der
Rückverlegung? – „Um 1760“ – eher gegen Ende des Jahrhunderts - wurde in Basel
der Bundesbrief von 1291 entdeckt und herausgegeben. Aber damals waren die
großen Chronik-Werke schon geschrieben. Und diese kannten nur das Gründungsdatum
1307 und einen Bundesbrief von 1315.
Der Bundesbrief von
1291 ist eine späte Urkundenfälschung oder Urkundenschöpfung. Aber im Laufe von
mehr als einem Jahrhundert erhielt dieses Dokument einen Nimbus, der noch heute
anhält.
Bei der Diskussion um
1291 oder 1307 vergaßen die neueren Historiker ein wesentliches Element: Die
ältesten Chroniken nennen nicht 1307, sondern 1314 als Ursprung des Schwyzer
Schwurbundes (vgl. dazu: Pfister: Die
Entstehung der Jahrzahl 1291). – Was soll man von einer Geschichtswissenschaft
halten, welche Inhalte und Daten nach Belieben ändert?
Es war übrigens der
Freiburger Historiker Alexandre Daguet, welcher ab etwa 1860 als erster das
Gründungsdatum 1291 verfocht (Vgl. Pfister: Beiträge
zur Freiburger Historiographie, Die Entstehung der Jahrzahl 1291).
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Grosjean
war ein gewissenhafter Forscher. Also erkennt der kritische Leser die
Schwachstellen der Argumentation: Die ganze Geschichte der Bundesgründung ruht
auf den wenigen Seiten des Weißen Buches. Aber dieses nennt keine Jahrzahlen
und erwähnt die Schlacht bei Morgarten nicht.
Deutlich
wird auch, daß die ältere Chronistik den angeblichen Bundesbrief von 1291 nicht
kennt.
Auch
der Ort der sagenhaften Schlacht am Morgarten ist umstritten. Die Vorstellung,
daß die Schwyzer bei jenem Kampf Lawinen von Felsblöcken und Baumstämmen auf
den Gegner hinuntergewälzt hätten, bezeichnet Grosjean sogar als naiv.
Die
Broschüre über die Gründung der Waldstätte läßt den Widerspruch erkennen, den
keine wissenschaftliche Bemühung beseitigen kann: Die Bundesgründung wird als
eine Legende angesehen, soll aber nichtsdestoweniger einen wahren Hintergrund
haben.
Das
Heft ist wie die anderen Titel jener beiden Reihen mehrenteils ein Bilderbuch:
32 schöne Schwarzweiß-Fotos stellen Landschaften rund um den Vierwaldstättersee
dar, bilden Burgruinen wie die Schwanau, den Meierturm in Silenen, die Zwing
Uri, die Gesslerburg und Alt Habsburg ab, zeigen Tell-Darstellungen, eine
Ansicht des Bundesbriefarchivs in Schwyz, eine Musterseite aus dem Weißen Buch
und eine Illustration aus der Spiezer Chronik von Diebold Schilling.
1965
war die Auffassung von der Bundesgründung der Schwyzer noch unwidersprochen.
Aber schon wenige Jahre später wurde die erste Kritik laut.
Als
ich die Vorarbeiten für dieses Buch begann und Literatur sammelte, erinnerte
ich mich an ein Buch, das ich um 1970 gelesen hatte und genau mein Thema war,
nämlich eine kritische Auseinandersetzung mit der älteren Geschichte der
Eidgenossen. – Unter Umständen könnte mir jenes Werk viel Arbeit abnehmen,
stellte ich mir vor.
Bald
hatte ich das Buch gefunden. Es stammt von Otto Marchi und ist betitelt mit Schweizer Geschichte für Ketzer oder die
wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft.
Wie
ich aber wieder darin las, erkannte ich bald, daß dieses Werk schon ziemlich
Staub angesetzt hatte und nur bedingt nützlich war.
Marchi
schrieb sein Buch 1968. In den beiden folgenden Jahren erschien es als
Zeitungsserie und wurde darauf für die Erscheinung 1971 in die vorliegende Form
umgeschrieben. Die ursprünglich journalistische Abfassung des Werkes erkennt
man deutlich am Stil des Inhalts und an Kapitelbezeichnungen wie: Die sagenhafte Apfelschützen GmbH, Die
pränatalen Gründerjahre, Die Pensionierung der Bösewichte und Rütli – Rebellion der Sennen?
Die
Schweizer Geschichte für Ketzer ist
reich, aber chaotisch illustriert – und auch das textliche Layout ist der
Lesefreude nicht angetan. - Um das Gewicht des Werkes zu erhöhen, wurde der
Zürcher Geschichtsprofessor Marcel Beck um ein Vorwort gebeten – und die
bekannten Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel und Kurt Marti schrieben je
einen Text als Anhang.
Bei
der erneuten Lektüre hatte ich Mühe, die Grundidee des Buches herauszufinden.
Gewiß, es geht um eine Entmystifizierung der aufgebauschten und heroisierten
Geschichte der frühen Schwyzer Eidgenossenschaft.
Endlich
nach über hundert Seiten erklärt Marchi sein Anliegen, durch die Widerlegung der
historischen Existenz Wilhelm Tells Sage
und Geschichte auch in der Befreiungsgeschichte exakt zu trennen (Marchi,
124).
Erst
jetzt erfährt der Leser, daß der Autor nicht die Entstehungsgeschichte der
Schwyzer Eidgenossen als solche entlarven will, sondern nur deren märchenhafte
Ausschmückung.
Die
Tell-Geschichte zum Beispiel sei geschaffen worden, um Herausforderungen einer
späteren Zeit zu begründen. Dies sei aber heute nicht mehr nötig. Die heutige
Schweizer Schule habe den jungen Staatsbürgern statt unreflektierter Abziehbildchen ein kritisches
Geschichtsverständnis beizubringen (Marchi, 124).
Das
sind kluge und große Worte von Otto Marchi. Aber der Autor beläßt es mit
allgemeinen Deklamationen. Wie ein kritisches Geschichtsbild der Schweiz
beschaffen sein müßte, bleibt unklar.
Und
mit der Forderung, in der Geschichte Dichtung und Wahrheit zu trennen, zeigt
sich Marchi nicht als Einzelner, sondern als einer unter vielen. Diese
Absichtserklärung haben andere Historiker abgegeben. Sogar der berühmte Karl
Meyer bekannte sich dazu. Aber daraus leitete letzterer den Schluß ab, daß die
ganze Befreiungsgeschichte der Waldstätte authentisch und Wilhelm Tell eine
historische Person sei.
Je
weiter man das Buch liest, desto deutlicher merkt man, daß Marchi eine
theoretische und methodische Grundlage fehlt. Er möchte die glorifizierte
Schwyzer Geschichte auf ein Normalmaß zurückführen, nicht abschaffen. Der Autor
betrachtet die einheimische Geschichte kritisch, aber er greift kritiklos auf
die allgemeine Geschichte zurück. Die kaiserlosen, die schrecklichen Jahre von
„1250 bis 1273“ sind für ihn unreflektierte Wirklichkeit, so gut wie Rudolf von
Habsburg und Kaiser Albrecht I.
Dabei
enthält das Werk auch brauchbare Ansätze einer neuen Geschichtsbetrachtung.
Dank seiner kritischen Haltung erkennt Marchi zum Beispiel Parallelitäten oder Präfigurationen, wie er sie nennt, und
bringt sogar etwas Geschichtsanalyse.
Über
die Motive zur Erfindung der Gründungssage wird zum Beispiel gesagt: Das Recht auf eine eigenständige Entwicklung
wird damals noch durch eine Anknüpfung an irgendwelche möglichst berühmte
Präfigurationen aus der Vergangenheit bewiesen, von denen die eigenen
Einrichtungen hergeleitet und damit auch gerechtfertigt werden (Marchi,
39). - Der Stil der Aussage ist allzu historisch, aber der Kern stimmt.
Im
Laufe seiner Darlegungen bringt Marchi auch konkrete Beispiele für
Präfigurationen oder Parallelitäten. So erwähnt der Autor, daß Doktor Eck, der
Anwalt der katholischen Kirche an der Badener Disputation von „1526“, mit dem
Riesen Ecke in der Dietrichssage, in dem eidgenössischen Laupenlied und in Niklaus Manuels Gedicht Des Baders und Eggers Badenfahrt zu vergleichen sei. - Nur zieht
Marchi nicht die Folgerung, daß die erwähnten Ereignisse und Personen erfunden
sein müssen.
Die
Schweizer Geschichte für Ketzer ist
nicht so ketzerisch wie sie behauptet. Deshalb konnte diese Geschichtskritik
nicht greifen und ist schon vergessen.
Der
Autor des Werkes verließ danach die Historie und wurde Romanschriftsteller.
Otto
Marchi ist im Dezember 2004 bei der Flutkatastrophe in Südasien ums Leben
gekommen.
Ich
hatte dieses Museum vorher nie besucht. Mir fehlte das Motiv, jenen Ort
aufzusuchen. Gemeint ist das Bundesbriefarchiv in Schwyz, das seit 1998, nach
einem Umbau und einer Neukonzeption Bundesbriefmuseum heißt.
Als
ich das erste Mal dort eintrat, war meine Spannung groß. Bei den Vorarbeiten zu
diesem Buch war jenes Museum für mich interessant geworden.
Dabei
gibt es in diesem Archiv oder Museum wenig zu sehen. - In der Eingangshalle werden
verschiedene Dinge der Waldstätte und der Landschaft Schwyz vorgestellt und
erklärt. Dann geht es über einen breiten Treppenaufgang hinauf in einen großen
Saal, in welchem die Weihegegenstände der Schwyzer Eidgenossenschaft
ausgestellt sind: verschiedene Banner und einige Urkunden, allen voran
natürlich der Bundesbrief vom „August 1291“ die
wichtigste nationale Profanreliquie (Entstehung,
Sablonier: Bundesbrief, 132).
Auch
Dokumente des patriotischen Bewußtseins des 19. Jahrhunderts werden gezeigt.
Man erfährt, daß erst mit der 600-Jahr-Feier der Bundesgründung 1891 der
Bundesbrief mit dem Datum 1291 jene überragende Bedeutung im allgemeinen
Bewußtsein und in der historischen Betrachtung gewann.
Und
niemals vergessen sollte man den Anlaß zum Bau dieses Archivs oder Museums. Die
Idee wurde anfangs der 1930er Jahre entwickelt und ausgeführt. 1936 weihte man
diese nationale Gedenkstätte mit ziemlichem Pomp ein.
Seine
größte Bedeutung erlebte das Bundesbriefarchiv kurz darauf im Jahre 1941, als
die Schweizer Eidgenossenschaft vor einer existentiellen Bedrohung wegen der
vollständigen Umklammerung durch die Achsenmächte stand.
Die
Feierlichkeiten zum 650-Jahr-Jubiläum bedeuteten den Höhepunkt der
Bundesbrief-Verehrung.
Der
damals auch in der Bundesregierung einflußreiche Historiker Karl Meyer, ein
bewußt handelnder staatlicher Propagandapublizist, ein selbsternannter Chefideologe (Entstehung,
Sablonier: Bundesbriefmuseum, 174)
holte dafür sogar Wilhelm Tell als angeblich historische Figur zurück.
Unterdessen
sind viele Jahrzehnte vergangen und der Zeitgeist hat sich gewandelt. Das
Bundesbriefarchiv bekam einen neuen Namen und eine neue Konzeption. Die heutige
Präsentation und die Erklärungen auf den Tafeln erstaunen durch eine
verblüffende Offenheit und Aufgeschlossenheit. Unumwunden wird erklärt, daß das
traditionelle Bild von der Entstehung der Eidgenossenschaft falsch und
Gemeinplätze wie der Burgenbruch der Waldstätte historisch nicht zu belegen
seien.
Das
Bundesbrief-Museum in seiner heutigen Konzeption will die monumentale Aufbauschung der mittelalterlichen Frühgeschichte
unseres Landes (Marchal: Bundesbriefarchiv,
158) korrigieren und zur historischen Selbstbescheidung anleiten, hat man den
Eindruck. Aber reicht das aus oder ist das der richtige Weg?
Die
Betreiber haben sich Mühe gegeben, ein aggiornamento
des Archivs zu versuchen. – Doch die Frage der Fragen wird nicht beantwortet:
Wie steht es um die Echtheit der Urkunden?
Als
Fazit habe ich den Eindruck, als sei die Neugestaltung auf halbem Wege stehengeblieben.
Man müßte mehr tun.
Schon
im Garten des Museums gäbe es etwas aufzuräumen. Dort steht noch immer ein unpassendes,
überdimensioniertes Kriegerdenkmal von 1939: ein Bronzesoldat in pathetischer
Pose, mit Nagelschuhen und Gamaschen (Pfister: Historische Denkmäler in der Schweiz). Die Figur stört nicht nur
den Ausblick auf die Mythenstöcke hinter Schwyz, sondern tötet jede Besinnung
und weckt dafür Ärger und Aggression. – Doch zur Wegschaffung dieses
unzeitgemäß gewordenen Monumentes konnte man sich offenbar bisher nicht durchringen.
Sankt
Gallen bezieht seinen historischen Ruhm von dem ehemaligen Kloster, richtiger
der Fürstabtei Sankt Gallen. Diese wurde 1805 aufgehoben. Aber die barocke
Anlage am Rande der Altstadt besteht noch immer.
Berühmt
ist in diesem ehemaligen Stift der Lesesaal im Stil des Barocks oder Rokoko, etwa
in den späten 1780er Jahren errichtet.
Und
vor allem wird der Reichtum der Bibliothek gepriesen: etwa 15’000 alte Bücher
und 2000 Handschriften bilden einen Schatz, der nach außen strahlt.
Kein
Wunder, daß Sankt Gallen 1983 in die angesehene Liste des
UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurde.
Für
die Vermarktung der ostschweizerischen Stadt mag dieses Etikett gut sein. Doch
wir suchen die historische Wahrheit. Also erlauben wir uns einige Fragen zu
stellen.
Es
gab sicher ein Kloster Sankt Gallen, wenngleich die Stadt die Reformation
mitmachte. Fortan bildete das religiöse Zentrum eine fürstliche Abtei der alten
Eidgenossenschaft. In diesen Zeiten entstanden die heutige Stiftskirche, die
Stiftsbibliothek und die übrigen Gebäude.
Aber
die Abtei gab sich nicht mit ihrer bloßen Existenz zufrieden. Mit großem
Aufwand stellte sie eine monumentale Geschichtslegende her von einem blühenden
Kloster, das 1000 Jahre vorher entstanden sei.
Die
Abtei sammelte vor allem einen eindrucksvollen Stock Handschriften, die aus der
ganzen Zeit des „Mittelalters“ stammen sollen.
Die
gewaltige Geschichtslüge von einem reichen Kloster Sankt Gallen und kostbaren
Handschriften in altersgrauen Zeiten wird noch heute geglaubt und staatlich
gepflegt.
Die
Stiftsbibliothek Sankt Gallen ist zu einer Propagandastätte für das angebliche
christliche Mittelalter geworden.
Danach
lägen die Ursprünge des Klosters Sankt Gallen in einer nebulösen
„frühmittelalterlichen“ Zeit. Es gab damals kaum schriftliche Aufzeichnungen,
und die Kultur muß gegenüber der Römerzeit auf ein jämmerliches Niveau gesunken
sein.
Das
Handbuch der Schweizer Geschichte
weiß nichtsdestoweniger erstaunlich viel über jene Anfänge zu berichten:
720 gründete der alemannische, aber in Rätien am
Bischofshof erzogene Priester Otmar an der Grabstätte des Gallus, wo sich ja
schon immer eine kleine Einsiedelei befunden hatte, das Kloster St. Gallen. In
der Folge unterstellte er es der Benediktinerregel. Den Auftrag zur Gründung
gab ihm der Tribunus Waltram von Arbon, der Grundherr der Gegend. Unterstützt
wurde er aber auch vom Präses Viktor und den alemannischen Herzögen
(Handbuch, I, 119).
Der
pseudohistorische Nonsens dieser Zeilen ist nicht zu überbieten.
Aus
der Einsiedelei und dem Kloster soll im Laufe der Zeit eine reiche und mächtige
Abtei entstanden sein.
Auch
hier weiß das Handbuch sehr viel mit
vielen Einzelheiten:
Dank der Schenkungen, die seit dem Ausgang des 8.
Jahrhunderts rasch zunahmen, und um die Mitte des 9. Jahrhunderts ihren
Höhepunkt erreichten, wurde St. Gallen zu einem der reichen karolingischen
Königsklöster. So entstand ein in unzählige kleine und kleinste Einzelstücke
aufgesplitterter Großgrundbesitz, nicht etwa ein zusammenhängendes Gebiet, das
im Großbetrieb hätte bebaut werden können. Zu Beginn des 10. Jahrhunderts
dürften es schätzungsweise 4000 Hufen oder 16000 Jucharten gewesen sein, die
sich im Raum zwischen Limmat, Aare und Donau, d.h. in ganz Alemannien
verteilten (Handbuch,
I, 133).
Es
ist schwer zu glauben, daß eine solche hirnrissige Pseudogeschichte noch heute
geglaubt und geschrieben wird.
Die
gefälschten Urkunden stellen tatsächlich den Grundbesitz des karolingischen
Sankt Gallens als riesigen Splitterbesitz dar, der sich sogar auf einem
großräumigen Kartenausschnitt kaum ganz darstellen läßt.
Aber
was soll ein solcher Streubesitz in einer unendlich fernen Zeit, als Europa
angeblich politisch und wirtschaftlich am Boden lag, als es weder Münzen, noch Fernstraßen,
noch eine entwickelte Kultur gab und die an sich schon armen Landschaften von
fremden Kriegsscharen geplündert und verheert wurden?
Offenbar
standen den Verwaltern zur Inspektion ihrer Güter geländegängige Autos mit
Allradantrieb zur Verfügung. - Und die Zinszahlungen der Untertanen an das
Kloster besorgte wohl die Raiffeisenbank oder der Credit Suisse.
Im
Laufe des 18. Jahrhundert blühte das Kloster und danach die Fürstabtei Sankt
Gallen auf. – Doch der riesige Grundbesitz achthundert Jahre vorher scheint sich
verflüchtigt zu haben, als hätte er nie existiert.
Die
Geschichte des Klosters Sankt Gallen nach dem Jahr „1000 AD“ liest sich als ein
achthundertjähriger Abstieg, wie auch der Blick auf die Handschriftensammlung
des Stifts zeigt.
Die
Wissenschaft behauptet hier, fast alle diese Handschriften stammten aus der
Zeit bis zum Ende des Mittelalters, also bis zum „16. Jahrhundert“.
Ein
Fünftel der Manuskripte soll sogar aus der Zeit vor dem Jahr „1000 AD“ stammen.
Was
soll das? Hat denn das Kloster Sankt Gallen in der Neuzeit überhaupt nichts
mehr Handschriftliches hervorgebracht? War die Abtei bis zu ihrer Aufhebung nur
mehr von einfältigen Mönchen und geistig beschränkten Äbten bewohnt?
Man
kann die Absurdität der pseudohistorischen Behauptungen auch vom Bau her
aufrollen: Da hat man im letzten Fünftel des 18. Jahrhunderts eine Bibliothek
für Handschriften gebaut, die schon viele Jahrhunderte, teilweise schon vor
tausend Jahren existiert hätten. – Glaubt jemand an eine tausendjährige
Aufbewahrungszeit von empfindlichen Manuskripten?
Über
tausend Jahre hätte man in einem legendären Kloster in der Ostschweiz die
gleichen Handschriften der Bibel, der Kirchenväter und ausgewählter klassischer
Autoren hergestellt, gesammelt und gelesen.
Dabei
scheute man in dieser angeblich bettelarmen Zeit keine Mühe und keine Kosten.
Gewisse illuminierte Manuskripte müssen ein Vermögen gekostet haben – abgesehen
von der Kunstfertigkeit und dem Arbeitsaufwand.
Eine
verquere Chronologie und ein absurdes Geschichtsbild führten zu dieser schrägen
Optik.
Jeder,
der mit etwas kritischem Verstand die Sankt Galler Handschriften betrachtet,
wird die falschen Zuschreibungen und Datierungen entlarven.
Auch
in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen wird nur mit Wasser gekocht. Alle dortigen
Handschriften stammen demzufolge aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts.
– Die „Karolingerzeit“ und das übrige „Mittelalter“ ist eine Erfindung der
Renaissance und des Barocks.
Die
Kuratoren und Wissenschaftler, die noch heute das Märchen von der karolingischen
Blüte eines Klosters Sankt Gallen verbreiten, blenden die einfachsten
kritischen Überlegungen aus.
Bei
Sankt Gallen, dem Kloster und der Stiftsbibliothek mit ihren Handschriften, fragt
man sich einmal mehr: Weshalb muß denn alles so alt, wenn möglich „uralt“ sein?
Kann man sich nicht auch an Dingen freuen, die höchstens ein paar Jahrhunderte
alt sind?
Als
Mittelschüler war dies meine erste große historische Lektüre: die monumentale Geschichte Berns von Richard Feller.
Der
erste Band - der literarisch am meisten beeindruckt - erschien 1946, behandelt
die Geschichte der Stadt von den Anfängen „im 13. Jahrhundert“ bis „1516“ und
ist 600 Seiten stark. Der zweite Band mit noch mehr Seiten geht bis 1653, also
bis zum Bauernkrieg. - Bis 1798 folgen nochmals zwei Bände, wobei der letzte
und dickste nur mehr die Jahre 1790 bis 1798 abdeckt. – Alles in allem eine
gewaltige Leistung jenes 1958 verstorbenen Berner Professors.
Fellers
Werk ist das große Epos von den
wechselvollen Schicksalen des mächtigsten Stadtstaates diesseits der Alpen,
seinem Aufstieg, seiner Blüte und seinem Untergang (Feller/Bonjour, II,
759).
Man
ist gespannt zu erfahren, wie Bern dieses staunenswerte politische Ergebnis fertiggebracht
hat. Und Feller in seiner nüchtern-disziplinierten, aber manchmal auch
pathetischen Sprache gibt dem Leser eine Antwort:
In tiefer Not verstrickt, gab dieses Geschlecht den
nachfolgenden das Beispiel der Selbstüberwindung; der Gemeinsinn siegte über
die Leidenschaft. Das ist das Außerordentliche, das Bern durch Jahrhunderte
Frucht trug und bereits andeutete, daß in Bern die politische Begabung die
anderen Fähigkeiten überragte (Feller, I, 68).
Die
scheinbar geniale Einsicht Fellers in die Geheimnisse des staunenswerten
Aufstiegs von Bern ist jedoch weit weniger aufsehenerregend, wenn man sie mit
der chronikalischen Quelle dieser Aussage vergleicht.
Valerius
Anshelm nämlich schrieb am Anfang seines Werkes, er wolle darstellen, daß eine so löbliche, mächtige Stadt Bern
durch semliche tugendsame Regierung angefangen, zugenommen, erhalten und so
hoch gebracht (Anshelm, I, 8).
Nicht
nur die außerordentliche politische Begabung sei es nach Feller gewesen, die
Bern groß gemacht habe, sondern auch eine geradezu phantastische divinatorische
Begabung seiner Führungsschicht:
In Bern stieg aus dem Dunkel der Frühe ein Wille
auf, der die Umstände mit einer Sicherheit erfaßt, als ob er seine Absichten
schon durch Jahrhunderte erblickte (Feller, I, 9).
Bern
muß wirklich eine politische Sonderbegabung ersten Ranges gewesen sein. Feller
nährt mit seiner Diktion und seiner Darstellung diese Meinung. Nach ihm bekommt
man den Eindruck, daß diese Stadt eine Art historisch-politisches Utopia
gewesen sei, ein Land Kanaan, wo Milch und Honig fließt:
Das Jahr 1420 war wundersam fruchtbar; die Natur
spendete so verschwenderisch, daß man schon Ende August mit der Weinlese
begann. Wein und Korn wurden so billig, als sich kein Mensch besinnen konnte.
Der Wohlstand nahm zu, das Handwerk hatte goldenen Boden, seine Gesellschaften
erwarben eigene Häuser und schmückten sie mit schönem Gerät (Feller,
I, 258).
Wäre
hier nicht eine Jahrzahl drin, so würde man meinen, das sei eine freie
Übersetzung von Ovids Gedicht über das goldene Zeitalter.
Wahrhaftig,
in Bern war alles im Überfluß vorhanden. Mißernten, Teuerung und Pest machten
vor den Stadttoren halt. Da begreift man, weshalb diese gottbegnadete Stadt
ringsherum für jeweils Tausende von Goldgulden Städte und Landschaften zusammenkaufen
und dennoch einen Staatsschatz äufnen konnte, dessen Größe sich im späten 18.
Jahrhundert in ganz Europa herumsprach.
Aber
bleiben wir nüchtern und fragen uns, woher Feller die Inspiration holte, um ein
solch unwirklich-verklärtes Geschichtsbild einer Stadt Bern in alten Zeiten zu
malen. Die kritischen Einwände kamen mir erst mit der Geschichtsanalyse. Vorher
war ich Jahrzehnte von Fellers Darstellung voreingenommen und blind gegen
Einwände.
Dabei
hätte ich schon vor einigen Jahrzehnten auf das Geheimnis von dessen selbstsicherem
Urteil kommen können. An einer Tagung sprach ich einmal einen Professor an, der
selbst bei Feller studiert hatte. Dieser Mann teilte meine Begeisterung für den
Autor der Geschichte Berns
keineswegs. Der Hochschullehrer sagte, daß Feller in seinen Seminaren überhaupt
keine Quellenkritik betrieben habe. Die alten Zeugnisse wurden gelesen und
kommentiert, nicht mehr.
Erst
heute habe ich diese Bemerkungen begriffen und ergründe das Geheimnis dieses
historiographischen Monuments über Bern.
Feller
kann deshalb so selbstsicher die Geschichte der Stadt darstellen und deren
Entfaltung als Werk der göttlichen Vorsehung hinstellen, weil er getreu die
chronikalischen Quellen wiedergibt. Für die ältere Zeit bis nach der
Reformation sind das Justinger und
Anshelm.
Hat
man die letzteren Chronisten analysiert, so versteht man auch Feller. Die
Theodizee, die göttliche Bestimmung im menschlichen Handeln, welche der
Geschichtsschreiber des 20. Jahrhunderts bringt, folgt teilweise wörtlich derjenigen
der genannten alten Historiographen.
Weil
Feller unkritisch die alten Chronisten wiedergibt, fallen ihm auch die gröbsten
Widersprüche in seiner Darstellung nicht auf. Er stellt keine Fragen, weshalb
Bern „in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ das Städtchen Aarberg
insgesamt dreimal gekauft hat.
Feller
erkennt auch die anderen Merkwürdigkeiten in Berns Expansionspolitik nicht. So wird
nicht hinterfragt, warum die Stadt häufig ein fremdes Städtchen kriegerisch
einnimmt, um es nachher rechtmäßig durch Kauf zu erwerben – geschehen etwa mit
Burgdorf.
Auch
sucht man bei Feller vergeblich nach einer Antwort, weshalb Berns Westpolitik,
also die Beherrschung der Waadt, während drei Jahrhunderten erfolglos war.
Noch
gröbere Widersprüche treten hervor, wenn Feller die Bildung und das Latein in
der Stadt behandelt. Getreu seiner fixen Meinung, daß hier die Außenpolitik den
Vorrang über den Kommerz und die Bildung hatte, zeichnet dieser Historiker ein
abstruses Bild der Bildungsverhältnisse im älteren Bern. Zwar hätte es schon „ab
dem 14. Jahrhundert“ in der Stadt eine Lateinschule gegeben, aber diese sei nur
auf die praktischen Bedürfnisse, also besonders die Kanzlei ausgerichtet
gewesen:
Zumeist erreichten geistige Bewegungen anderer
Länder den Berner nicht. … Die geistige Speise blieb durch Jahrzehnte
unerfrischt. … Berns Durchgang durch das Latein war dürftig, weil man nicht
nach dem Geist trachtete, den das Latein erschloß … Mit dem Latein versagte
sich Bern den gangbarsten Weg zur geistigen Welt. ... Die geistige Ausstattung
darbte, weil die Kopfarbeit in Bern gering geachtet war (Feller,
II, 57 f.).
Die
Idealstadt Bern war also eine geistige Wüste. Da verwundert, daß der Ort so
bedeutsam wurde, obwohl er doch von Spießern beherrscht wurde. Und man kann
kaum begreifen, daß Bern neben Zürich so unglaublich schnell die Reformation
übernommen hat, obwohl nach Feller fremde geistige Einflüsse nicht durch die
Stadttore eingelassen wurden.
Manchmal
muß man sich in Fellers Darstellung sogar wundern, was er überhaupt meint:
Die Verehrung der Ahnen bestimmte das Antlitz der
Vergangenheit. Der Berner übte unbewußt die Fähigkeit, in die Vergessenheit zu
verstoßen, was ihr Andenken trübte (Feller, II, 64).
War
Bern rückwärts gerichtet oder nur traditionsbewußt? Und wie kann man eine
kritische Geschichte Berns schreiben, wenn die Altvordern doch bewußt aus ihren
Quellen und Darstellungen alles herausgefiltert haben, was das Andenken an die
Ahnen trübte?
Schon
eine kurze Betrachtung dieser monumentalen Geschichte
Berns zeigt, daß wir es bei Feller mit unkritischer Historiographie zu tun
haben. Das nüchterne Pathos und die geglättete Darstellung verhüllen nur
unzulänglich die Mängel, Widersprüche und Absurditäten in dem Werk. Für die
ältere Zeit – und das sind seinen Bänden immerhin die ersten tausendfünfhundert
Seiten, folgt Feller nicht nur den ersten Chronisten, er übernimmt auch ihre Tendenzen,
ohne es zu merken.
Nur
in Einzelheiten gibt es Kritik. So hält Feller dafür, daß die goldene Handfeste
Berns in ihrer heutigen Gestalt erst etwa „um 1300“ entstanden sei. – Und an
einer anderen Stelle verneint er die Überlieferung, daß die Stadt „1271“ gegen
die Habsburger eine Niederlage eingefangen habe, weil dies seiner Meinung nach
den Urkunden widerspreche.
Richard
Feller hat es noch gewagt, die ältere Geschichte Berns darzustellen.
Nach
der Mitte des 20. Jahrhunderts schrieben nicht mehr Einzelne Geschichte. Die
Geschichtsbücher kamen als Sammelwerke von verschiedenen Autoren heraus.
Berns Geschichte ist gut erschlossen und wird fast regelmäßig neu geschrieben.
Nach Richard Fellers großem Werk erschien 1971 ein kurzer Abriß über die Vergangenheit der Stadt und des Kantons von Hans Strahm.
Und zu Beginn der 1980er Jahre kam die vierbändige Illustrierte Enzyklopädie des Kantons Bern heraus, die neben der Geschichte und Kunstgeschichte auch die Geographie und Naturkunde einschloß.
1999 dann erschien in einer neuen Reihe Berner Zeiten ein umfangreiches Werk über die ältere Geschichte Berns: Berns große Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt.
Als ich den 685-seitigen Wälzer in der Hand hielt, stellte ich mir bereits Fragen: Was war an diesem „15. Jahrhundert“ so groß? Und wie schafft man es, über diese doch sehr entfernte Zeit so viel zu schreiben?
Nun, die „große Zeit“ bezieht sich auf die „Burgunderkriege“. – In diesem gewaltigen Ringen sei Bern zu einer Macht von fast europäischer Bedeutung aufgestiegen. Und alle frühen Chroniken, von „Justinger“ bis „Diebold Schilling“, sind zeitlich um dieses Ereignis herum angesiedelt.
Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis und eine erste Durchsicht zeigt Berns große Zeit als Sammelband. In ihm sind die verschiedensten Autoren mit den verschiedensten Themen vertreten. Eine Geschichte jener Zeit wird nicht geboten. Die Burgunderkriege werden kursorisch abgehandelt; die politische Entwicklung in jenem angeblich großen Jahrhundert kaum skizziert.
Durchgeht man das umfangreiche Werk, so staunt man, was es in diesem Bern in einem sagenhaften 15. Jahrhundert alles gegeben hat. – Die Stadt war also damals keineswegs die geistige und kulturelle Wüste, als welche sie Richard Feller beschrieben hat.
Man erfährt in Berns großer Zeit Dinge, die vorher vollkommen unbekannt waren. Der Untertitel des Werkes lügt also nicht: Die ältere Geschichte der Stadt wird tatsächlich neu entdeckt.
Beispielsweise wird erklärt, weshalb es in Berns angeblichem Mittelalter immer wieder zu Stadtbränden kam. – Man erfährt Details über die Trinkwasserversorgung. - Einzelne Architekten wie Bartholomäus May werden vorgestellt. – Der bernische Schloßbau im 15. Jahrhundert mit Worb und Reichenbach wird monographisch in allen Einzelheiten beschrieben.
Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte als moderne historische
Themen werden auf das ältere Bern angewendet. Da erfährt man staunenswerte
Einzelheiten. Beispielsweise gibt es ein Kapitel
über Verwaltungsstrukturen und
Verwaltungspersonal. .
Und eine Graphik zeigt die durchschnittlichen Getreidepreise in Bern „1435 bis
1474“.
Auch die Technikgeschichte wird gestreift: Die Räder-Uhr am Zytglogge-Turm soll ebenfalls aus jenem 15. Jahrhundert stammen.
Sogar Musik soll es in Berns großer Zeit gegeben haben. Jedenfalls werden einige Komponisten mit ihren Tonwerken vorgestellt.
Ausführlich wird der Münsterbau beschrieben. Denn nach „Justinger“ hätte Bern „1421“ mit jenem großen Architekturwerk begonnen.
Beim Durchblättern kommen die ersten Vorbehalte gegen Berns große Zeit: Das Werk ist zu groß, zu unhandlich und lädt trotz reich illustriertem Aussehen nicht zum Lesen ein. Die meisten Beiträge behandeln marginale Themen. Eine Gesamtschau wird nirgends geboten.
Und die zeitliche Abgrenzung jener angeblich großen Zeit Berns gegen die Neuzeit hin ist verschwommen. – Kulturgeschichtlich wird die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, also auch die Epoche der Reformation, dem Thema einverleibt.
Abbildungen aus Berner Bilderchroniken sind reichlich eingestreut. Aber sonst müssen Illustrationen des 17. oder 18. Jahrhunderts die weit zurückliegende Zeit verdeutlichen.
Nicht mehr das Gesamtbild eines Historikers scheint in Berns großer Zeit durch, sondern ein bunt zusammengewürfeltes Spezialistentum.
Die Kunstgeschichte und Mittelalter-Archäologie, dazu die Sozialgeschichte, haben das Zepter übernommen. Sie sollen dem Publikum weis machen, daß man über jene entfernte Zeit bestens Bescheid wisse – und vor allem genau datieren könne.
Beim Erscheinen jenes Werkes über das Bern im angeblichen 15. Jahrhundert stand ich erst am Anfang meiner Geschichts- und Chronologiekritik.
Doch klar war für mich schon damals: So viel über eine so ferne Zeit konnte man unmöglich wissen. Die Herausgeber und Autoren stellen die ganze Sache aber dar, also gäbe es überhaupt keinen Zweifel, weder an den Quellen, noch an den Inhalten – und schon gar nicht an den Zeitstellungen.
Mit Berns großer Zeit war die Sache aber nicht abgeschlossen.
2003 erschien ein Folgeband des neuen historischen Unternehmens: Berns mutige Zeit, welcher das „13. und 14. Jahrhundert“, also die ersten beiden Jahrhunderte nach der sagenhaften Stadtgründung behandelt.
Schon als ich die Vorankündigung und den Titel hörte, hatte ich dunkle Vorahnungen: Wenn schon Berns große Zeit ein zweifelhaftes Unternehmen darstellte, dann mußte es Berns mutige Zeit erst recht sein.
Als ich das Buch bekam und drin zu blättern begann, war ich wie erschlagen. Hier wird eine Geschichte dargestellt, so als hätte es sie wirklich gegeben. – Im gleichen Jahr, in welchem ich endgültig nachwies, daß es die alten Eidgenossen und das mittelalterliche Bern nicht gegeben hatte, erscheint ein Werk, das offenbar von nichts wußte.
Berns große Zeit ist ein anspruchsvoller Titel für eine zweifelhafte Epoche; und Berns mutige Zeit eine Anmaßung: Da hätte es also in einem weit entfernten Zeitalter, vor achthundert Jahren, in der Aare- Schlaufe große und mutige Leute gegeben. Diese hätten es gewagt, allen Widrigkeiten zum Trotz eine neue Stadt zu gründen, die sie Bern nannten.
Wo sind denn die Helden jener Stadt geblieben? Gibt es heute nur noch Duckmäuser, Anpasser, Opportunisten?
Eine Durchsicht von Berns mutige Zeit läßt den Kopf schütteln. Eine Riege von Dutzenden von Fachleuten schreibt über eine Nicht-Zeit und einen Nicht-Ort ein dickes Buch, ohne sich die geringsten Gedanken über die Plausibilität des Gegenstandes zu machen.
Mit seinen fast 600 Seiten ist das Buch wie der Vorgängerband unförmig dick, überreich illustriert, dabei ein Sammelsurium verschiedenster bedeutungsvoller und bedeutungsloser Themen, ohne einen rechten Zusammenhang. - Von den Grafen von Neu-Kyburg über die Genfer und Zurzacher Messen bis hin zu Berner Kachel-Öfen ist alles vertreten.
Verschiedene Autoren erörtern die Entstehung Berns, wobei sogar archäobotanische (!) Argumente für das Gründungsdatum „1191“ vorgebracht werden und „präurbane“ (nicht pränatale!) Siedlungen im Stadtgebiet vermutet werden.
Weil für das „13. und 14. Jahrhundert“ keine erzählenden Quellen vorliegen, muß einmal mehr „Justinger“ in den Himmel gelobt werden. Von dessen doch reichlich dürren und inkohärenten Chronik wird behauptet, sie stütze sich auf Quellen, sei kritisch und biete eine plastische Darstellung. – Haben die Autoren, die das geschrieben haben, den Justinger überhaupt gelesen?
Die wichtigsten pseudogeschichtlichen Ereignisse jener angeblichen Zeit werden kaum behandelt. Der Laupenkrieg wird nur in anderen Zusammenhängen erwähnt. - Die Schlacht von Jammertal fehlt völlig.
Dafür aber wissen die heutigen Berner Historiker besser Bescheid als die alten Chronisten: Justinger habe sich an einer Stelle verschrieben, wird gesagt: Es sollte heißen „1271“, statt „1241“. – Die Besserwisserei der modernen „Fachleute“ ist unerträglich.
Auch sonst staunt man, wieviel Wissen über Berns sagenhafte Zeit angeblich existiert. Schon „1394“ notierte man zum Beispiel genau, wer in der Stadt wieviel Steuern bezahlte und in welcher Gasse er wohnte.
Man wird fast erschlagen von dem Haufen historischer Trivia, die hier ausgebreitet werden.
Was sollen acht Seiten über die Glasfenster in der Kirche von Königsfelden im Aargau? – Will man etwa glaubhaft machen, die alte Technologie hätte schon vor 700 Jahren Fensterglas herzustellen vermocht?
Und was soll die Nennung der Ordensburg Marienburg bei Danzig samt Bild – sicher ein Bau des frühen 18. Jahrhunderts – in diesem Werk? – Aber korrekt wird dieser Ort mit dem heutigen polnischen Namen Malbork wiedergegeben.
Wie schon in Berns großer Zeit hat auch in Berns mutiger Zeit die Kunstgeschichte und die Mittelalter-Archäologie die Beweisführung übernommen.
Bezeichnenderweise ist der zweite Artikel nach dem Vorwort eine Betrachtung über Gotik in Bern. – Was man damit bezweckt, wird bald klar: Die Architekturgeschichte liefert zu ihren Bauwerken exakte Daten. Damit hofft man, die absurde Konstruktion eines „spätmittelalterlichen“ Berns chronologisch zu stützen.
Nach den Autoren hat zum Beispiel die Französische Kirche in Bern schon „1300“ gestanden – weit über vierhundert Jahre, bevor jener Bau zeitlich glaubwürdig ist!
Man staunt, wie viele uralte Kunstwerke es im Kanton Bern gibt.
Die Wandmalereien in der Kirche von Aeschi bei Spiez sollen „im 1. Viertel des 14. Jahrhunderts“ entstanden sein. – Und im Schloß Köniz soll es Balken geben, die aus der Zeit „um 1260“ stammen.
Bedenkenlos werden auch Kunstgegenstände, die eindeutig nicht in einen „mittelalterlichen“ Zusammenhang gehören vereinnahmt, um zu belegen was nicht zu belegen ist.
Unerhört ist etwa die Wiedergabe des Fragments eines jüdischen Grabsteins. – Dieser wurde vor hundert Jahren an der Kochergasse am Ort des ehemaligen Juden-Friedhofs gefunden. Das Dekor und die Schrift verweisen diesen Überrest in das 19. Jahrhundert.
In Berns große Zeit aber dient das Fragment dazu, Juden und hebräische Sprache in einem Bern „in der Mitte des 13. Jahrhunderts“ zu beweisen.
Der Archäologie-Exzesse greifen zuletzt ins Lächerliche: Was sollen die Ausgrabungen über Holzhütten und einen Wohnturm in Court-Mévilier im Berner Jura aussagen? - Oder archäomedizinische (!) Untersuchungen an Skeletten von einem alten Klosterfriedhof auf der Sankt Petersinsel im Bielersee?
Die Einleitung des Werkes über Berns mutige Zeit ist in einem abgrundtief schlechten Deutsch geschrieben. – Und im ganzen Buch gibt es ärgerliche Druckfehler. – Ein Lektorat scheint es nicht gegeben zu haben. Man merkt die Hast: Das Werk mußte auf Teufel-komm-raus zum Jubiläum „2003 – Bern 650 Jahre im Bund der Eidgenossen“ herausgebracht werden.
Das Werk ist wiederum überreich illustriert – und man merkt warum: Wenn man historisch kein mittelalterliches Bern beweisen kann, so sollen das die Bilder tun.
Bis zum Überdruß werden zum Beispiel Bilder aus Diebold Schillings Spiezer Chronik reproduziert. Wohlweislich wird verschwiegen, daß dieses Werk aus viel späterer Zeit stammt.
Ebenfalls allzu häufig werden Aquarelle des Berner Burgenmalers Kauw wiedergegeben. – Auch hier wird nicht die Frage gestellt, wie Bilder aus dem 18. Jahrhundert für eine Zeit gut sein sollen, die damals schon vor über 300 Jahren zu Ende gegangen war.
Selbstverständlich werden viele Urkunden und Seiten aus illuminierten Handschriften reproduziert, dazu Siegel, Münzen und andere Gegenstände. – Aber die Herausgeber wußten nicht oder wollten nicht wissen, daß alle diese Dokumente nicht einmal ein Alter von 250 Jahren erreichen.
Man fragt sich, für wen dieses ärgerliche Werk von Berns angeblich mutiger Zeit zusammengestellt wurde. - Die veraltete Geschichtsauffassung, die darin vertreten wird, taugt höchstens noch für Zentenarfeiern, nicht für eine fortschrittliche Wissenschaft.
Man hat bei diesen Bänden wohl an das Publikum gedacht. Die opulente Bebilderung und der unförmige Umfang sollten etwa aussagen: Seht ihr Leute, die vielen schönen alten Dinge! Soll noch jemand an einem Mittelalter in Bern zweifeln!
Man könnte einwenden, die verantwortlichen Leute der Redaktion und die wichtigsten Mitarbeiter an diesem unqualifizierbaren Sammelwerk hätten nichts von der Geschichtskritik und den fehlenden Quellen gewußt.
Doch je länger man das Buch studiert, desto mehr merkt man, daß sehr wohl viel überlegt wurde. Eine geheime Blaupause läßt sich herausfiltern, die man etwa so umschreiben kann.
Zuerst sollte nirgends auch nur ein Anflug von Kritik an den Inhalten und Datierungen geäußert werden. Alles wird so dargestellt, wie es sich angeblich zugetragen hat, mit samt den Jahrzahlen und Zuschreibungen.
Vor allem sollte geflissentlich verschwiegen werden, daß alle erzählenden Quellen zu Berns angeblicher mittelalterlicher Geschichte aus späteren Zeiten stammen.
Man behalf sich mit Tricks, etwa dem, daß man einmal mehr die Behauptung auftischt, die vier Pergamentseiten der Cronica de Berno seien ein Vorläufer von „Justinger“ aus der „ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ – und nicht der billige lateinische Auszug aus der Entstehungszeit jenes Werkes.
Wenn die erzählenden Quellen nichts hergeben, so werden um so mehr Urkunden, Steuerbücher und einige andere Dokumente ausgequetscht, die angeblich die Existenz einer Schriftlichkeit in einer weit entfernten Nichtzeit an einem Nicht-Ort beweisen.
Wie in Berns großer Zeit, so haben an Berns mutiger Zeit Dutzende von Wissenschaftlern mitgearbeitet. – Aber wenn man den Aufwand betrachtet, so ist der Zweck verfehlt worden. Berns Mittelalter wird nicht bestätigt, sondern widerlegt.
Mit diesen beiden Werken hat die Berner Geschichtswissenschaft ihren Bankrott erklärt. Einem Großaufgebot an Mitteln, an Leuten und Papier steht ein Erklärungsdefizit gegenüber. Auch einem ganzen Harst von willigen Fachleuten ist es nicht gelungen, eine Epoche und einen Ort glaubhaft zu machen, die es nicht gegeben hat.
Die beiden Werke – Berns große Zeit und Berns mutige Zeit - sind, von den Abbildungen und einzelnen Beiträgen abgesehen, unbrauchbar und nicht zitierwürdig.
2006 gesellte sich ein neuer Band zu dem monumentalen Unterfangen der Berner Zeiten: Unter dem Titel Berns mächtige Zeit erschien eine Darstellung über ein angebliches 16. und 17. Jahrhundert bernischer Geschichte und Kultur.
Über diesen Band habe ich bereits ein Jahr vor dem Erscheinen eine Rezension geschrieben. Denn auf Grund der beiden vorherigen Bände konnte man ungefähr erraten, was darinstehen wird und mit welchen Problemen die Herausgeber und Autoren kämpfen werden.
Ich hatte mich nicht getäuscht: Berns mächtige Zeit ist gegenüber den vorherigen beiden Bänden vergleichsweise harmlos. Denn in jenen knapp zwei Jahrhunderten nach der Reformation ist bekanntlich in der Eidgenossenschaft nichts mehr passiert.
Und vor allem hat man schon für die ersten beiden Bände fast alles Pulver verschossen: Der Bau des Münsters war abgehandelt, die Burgen und Schlösser bereits besprochen, sogar die Reformation größtenteils vorbesprochen. – Und für die Bebilderung hatte man schon alle Aquarelle von Kauw und Illustrationen des Spiezer Schillings aufgebraucht.
Die Herausgeber haben die Leere der nachreformatorischen Zeiten bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts offenbar bemerkt. Aber statt das einzugestehen und ein inhaltliches und chronologisch richtiges Bild zu präsentieren, winden sie sich in einem grotesken stilistischen und grammatikalischen Kauderwelsch:
Von „Berns mächtiger Zeit“ zu sprechen, heißt, daß angesichts der Ambivalenz der Kategorie Macht und angesichts der Tatsache, daß Macht nie einfach gegeben ist, sondern permanent behauptet und realisiert werden muß, auch die Brüchigkeit und Prekarität von Machtansprüchen, die Vielschichtigkeit von Machtausübung, der Zwang zur Legitimation von Machtpositionen und die Fragwürdigkeit bernischer Machtentfaltung behandelt werden müssen. (Aus der Vorankündigung des Werkes, 2005)
Berns universitäre Geschichtswissenschaft stellt wirklich eine mächtige Macht dar!
Wie aber soll sich in der Zukunft etwas zum Besseren ändern, wenn weiter ein absurdes Bild einer märchenhaften Heldenzeit Berns propagiert wird?
Die Berner Zeiten ließen sich nicht aufhalten: 2008 erschien Berns goldene Zeit, eine Darstellung des 18. Jahrhunderts.
Jenes Jahrhundert ist in unseren Augen das erste plausible, also sollten wenigstens hier die Sachen im Allgemeinen stimmen. Aber Fehlanzeige: In jenem Jahrhundert ist die Stadt Bern erst entstanden. Die Entwicklung der Stadt ist inhaltlich und chronologisch völlig anders zu begreifen.
Was soll zum Beispiel das Universalgenie Albrecht von Haller? – Hat er wirklich alles selbst geschrieben, was man ihm andichtet?
In Historische Denkmäler in der Schweiz stelle ich dar, daß dieser Berner Geistesheroe eine fiktive Figur ist, von einer ganzen Schreibstube und erst gegen 1800 zusammengestellt.
Die alten Berner Zeiten – damit auch die Geschichte der alten Eidgenossen - sind anders darzustellen als bis anhin geglaubt.
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In der Matrix der alten Geschichte weise ich an einer Fülle von Beispielen nach, daß die ältere Geschichte mit ihren Inhalten und Zeitstellungen erfunden ist. Beweis dafür sind die vielen Parallelitäten, Duplizitäten oder Isomorphismen, die in der älteren Geschichte vorkommen. Alte Geschichte ist eine Abfolge ständiger Wiederholungen.
Die verschiedenen Teile der alten Geschichte erweisen sich bei der Analyse keineswegs als willkürlich geschaffen. Vielmehr treten in ihnen Bausteine, Prinzipien, Elemente hervor, die genau befolgt wurden. Es ist geradezu ein Kennzeichen der älteren Kulturschöpfungen, ob Kunst, Musik oder Literatur, daß diese nach strengen Regeln geschaffen wurden, welche ich die Matrix oder die Blaupause nenne.
Die ältere Geschichte ist erfunden, weil sich darin überall dieselben Elemente finden. – Die Ausformung mag variieren wie bei einem Kaleidoskop, die Struktur bleibt die gleiche.
Die alte Geschichte stellt Literatur dar. So werden die bisherigen Epocheneinteilungen wie „Altertum“, „Mittelalter“ und „Neuzeit“ unbrauchbar und irreführend. – Grundsätzlich kann man die Vergangenheit nur zweiteilen, nämlich in Vorgeschichte und Geschichte. Die erste ist erfunden und kennen wir nicht, die letztere kennen wir.
Irgendwo nach einer gewissen Zeit rückwärts auf der Zeitsäule hört die plausible und datierbare Geschichte auf. - Aber gleichwohl wird noch eine Vergangenheit mit genauen Inhalten und Zeitstellungen behauptet. Dieser ältere Teil der Geschichte ist gefälscht oder erdichtet.
Zu einer gewissen Zeit muß eine gewaltige Fälschungsunternehmung stattgefunden haben. Durch diese wurde die ältere Überlieferung vernichtet – sofern eine solche überhaupt bestanden hat - und durch eine Geschichtsdichtung entsprechend einer Matrix ersetzt.
Für diese Aktion sind von früheren Forschern verschiedene Namen vorgeschlagen worden.
Wilhelm Kammeier, der große deutsche Kritiker der „mittelalterlichen“ Überlieferung, sprach von einer „Großen Aktion“.
Edward Johnson in den 1890er Jahren nannte diese Unternehmung den „runden Tisch der Mönche“.
Gemeinsam ist beiden genannten Autoren, daß sie eine klerikale Autorschaft dieser Geschichtsfälschung behaupten. – Das ist aber nur mit Einschränkungen richtig, wie wir bei der alten Schwyzer Geschichtsschreibung sehen werden.
Fomenko, der russische Forscher, hat die Matrix mit mathematisch-statistischen Mitteln nachgewiesen, also daß die Inhalte der älteren Geschichte sich chronologisch und inhaltlich entsprechen und auf wenige Vorlagen zurückgehen. Er spricht vom „Textbuch“ der alten Geschichte und der Chroniken.
Um die Begriffe braucht man sich nicht zu streiten. Unleugbar ist, daß die ältere Geschichte, ob sie nun in die biblische, die antike oder die mittelalterliche Zeit gesetzt wird, Erzählungen sind. Diese folgen alle einem vorgegebenen Strickmuster und stimmen deshalb in ihren Inhalten weitgehend überein.
Die Figur des Herrschers Salomon zum Beispiel findet sich in allen wichtigen Epochen der älteren Geschichte, mit oft verblüffenden Parallelitäten und Übereinstimmungen (Pfister, Matrix). – Der byzantinische Kaiser Justinian ist ebenso ein Salomon wie Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen.
Nicht nur weltliche Herrscher, auch religiöse Führer haben ihre Doppelgänger oder Parallelitäten.
Die Lebensgeschichte von Jesus Christus nach den Evangelien stellt zum Beispiel eine exakte Übersetzung und Mißdeutung der Vita Caesaris dar.
Und in die erfundene Gestalt des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli ist sowohl das Vorbild von Jesus eingeflossen wie dasjenige des oströmischen Kirchenvaters Basilius des Großen (Pfister: Matrix).
Die Geschichtserfindung geschah zu einer bestimmten Zeit, ist deshalb inhaltlich und strukturell homogen. Alle Geschichten stehen grundsätzlich auf der gleichen Ebene. Daraus ergibt sich ein bisher nicht erkannter monumentaler Treppenwitz der Weltgeschichte: Die ältere, die erfundene Geschichte wird von Historikern dargestellt, die bestimmen wollen, was früher und was später war. – Aber die historische Betrachtungsweise bei der Vorgeschichte ist falsch, weil wir es mit Literatur, nicht mit Geschichte zu tun haben.
Als Beispiel möge Johannes von Müller dienen. Dieser schrieb Ende des 18. Jahrhunderts die erste allgemeine Schweizer Geschichte. Aber Müllers Werk nennt sich zutreffend Geschichten der Schweizer. Der Schreiber gab also zu, literarische Geschichten mit historischem Hintergrund und nicht wahre Geschichte zu schreiben. – Und sogar der Druckort war fingiert, nämlich Boston statt Bern. – Auch das Erscheinungsdatum „1780“ ist unmöglich früh.
Die einzelnen Geschichten der Großen Aktion stehen in einem wechselseitigen Verhältnis, sie bedingen einander.
Die biblischen Schriften gehören zweifellos zum ältesten Schriftbestand. Aber der zeitliche Abstand zu den anderen Texten, etwa den Kirchenvätern und nachher den Chroniken ist gering. Und es ist fast aussichtslos zu bestimmen, ob die Bibel oder die „antiken“ griechischen und lateinischen Autoren früher oder gleichzeitig geschrieben wurden.
Im
Folgenden soll das wahrscheinliche maximale Alter der historischen Quellen an
Beispielen aus der Schweiz untersucht werden. Dabei ist eine allgemeine
Feststellung voranzustellen. Diese hat keine fixen Eckpunkte, ist aber als
richtig anzunehmen.
Alphabet,
Schrift und Schriftsprachen reichen weniger als dreihundert Jahre vor heute
zurück.
Vielleicht
stehen Griechisch und das griechische Alphabet am Anfang. Aber jene Sprache ist
nicht dort entstanden, wo heute der Name Griechenland haftet, sondern
vielleicht in Syrien oder Ägypten.
Auf
der Grundlage des Griechischen wurde in Westeuropa das alte Latein als Reichs-
und Verkehrssprache entwickelt.
Erst
später kam Hebräisch dazu. Dieses fußt auf dem Griechischen und enthält
lateinische Lehnwörter.
Deutsch
muß gleichzeitig wie das Hebräische entstanden sein. Der deutsche Wortschatz
ist zu einem beachtlichen Teil hebräisch. Vermutlich gab es vorher eine
deutsch-hebräische Mischsprache, das nachmalige Jiddisch.
Je
besser eine Sprache sich darbietet, desto jünger ist sie. Das ciceronianische
Latein und das homerische Griechisch haben eine Raffinesse, die erst spät
vorstellbar ist.
Die
ersten Geschichten, die aufgeschrieben wurden, waren religiöse Erbauungsgeschichten,
nicht Geschichte in unserem Sinne.
Die
ältesten schriftlichen Zeugnisse, also die Bibel, die Kirchenväter und die
antiken Schriftsteller, kennen noch keine Zeitangaben, die sich mit den
heutigen verbinden ließen.
Die
heutige Schriftkultur und der Buchdruck sind um 1760 anzusetzen. Die alten und
die neuen Sprachen sind erst dann fixiert worden.
Mit
der Erfindung von Zeitstellungen wurden die Geschichten in eine absurde
pseudohistorische Chronologie gezwängt. So entstand die Meinung, daß hier eine
geschriebene Geschichte der Vorzeit vorliege.
Auf
die Geschichte der Eidgenossen angewendet bedeutet dies: Eine
Schwurgenossenschaft hat es gegeben, aber sie ist im vorgeschichtlichen Dunkel
entstanden. Die Entstehung des alten Bundes ist von den ältesten Chronisten
falsch oder verzerrt dargestellt worden. Wir kennen nur das Ergebnis, die alte
Schwyzer Eidgenossenschaft, wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts dastand.
Geschichte
braucht Quellen, das ist eine Binsenwahrheit. Deshalb gibt es innerhalb der
Geschichtswissenschaft eine eigene Abteilung Quellenkunde. Dort wird
aufgezählt, was für Quellen für die betreffende Zeit, Personen oder Ereignisse
zur Verfügung stehen.
Aus
dem Gesagten ahnen wir schon, wo der Pferdefuß bei diesen naiven Hinweisen zu
finden ist: Irgendwo nach ein paar Jahrhunderten vor heute hört jede
zuverlässige Geschichte auf, werden die Quellen unzuverlässig.
Auch
die Geschichte der alten Eidgenossen steht und fällt mit der Quellenfrage. - Für
die Ursprünge der Eidgenossenschaft führt dies zu einem Alptraum. Die
vorhandenen Quellen sind ausnahmslos schmal und ihre Beziehung zu den
behaupteten Zeiten mehr als fragwürdig.
Nun
kann man auch aus schmalen Quellen sehr viel herausholen. Mit dieser Methode
ist zum Beispiel nur über den Bundesbrief von „1291“ - etwa zwei Druckseiten – von
einem Historiker 1956 ein fast 600seitiges Buch erschienen.
Und
in den 1930er Jahren – gleichlaufend mit der Schaffung eines
Bundesbrief-Archivs - unternahm man das große Werk einer Sammlung aller Quellen
über die angebliche Bundesgründung 1291.
Herausgekommen
ist das Quellenwerk zur Entstehung der
Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bis anfangs der 1980er Jahre sind in
dieser monumentalen Quellensammlung zwölf Bände und ein Registerband
erschienen, gegliedert in drei Teile: Urkunden, Urbare und Rödel, so wie
Chroniken und Dichtungen. Das Prinzip war, alle für die Entstehung des Schwyzer
Bundes wichtigen Dokumente zu sammeln.
Vor
kurzem las ich in einem Geschichtsbuch, wie sich ein Historiker darüber
beklagte, daß dieses Quellenwerk keine neue Diskussion über die Ursprünge der
Eidgenossenschaft ausgelöst habe. – Anders herum wird hier gesagt, die ganze
riesige, von der öffentlichen Hand finanzierte Arbeit der Aufarbeitung von
Quellen sei unnütz gewesen.
Mit
der Geschichtskritik und Geschichtsanalyse begreift man, weshalb das genannte
Werk nicht zu einem neuen Bild der Anfänge der Schwyzer Eidgenossenschaft
geführt hat: Die Herausgeber vertrauten vollständig auf die konventionelle
Chronologie. Also daß sie nur Urkunden bis etwa „1350“ berücksichtigten und
weitere Dokumente bis „1400“. Man ahnte nicht, daß es eine zeitliche
Untergrenze für erhaltene schriftliche Aufzeichnungen gibt.
Aber
bei den Chroniken und Dichtungen mußte man notgedrungen Ausnahmen machen, weil
von der Befreiungsgeschichte keine Aufzeichnungen aus so früher Zeit
existieren. Also wurde auch das Weiße
Buch von Sarnen neu ediert – in der Meinung, daß dessen erzählender Teil
„um 1470“ entstanden sei und etwas mit Geschehnissen „um 1300“ zu tun habe.
Die
Herausgabe von Urkunden wäre überflüssig gewesen. Man hätte dafür mehr auf die
Neuedition von Chroniken verwenden sollen. Die Berner Chronik von Justinger in
ihren verschiedenen Versionen zum Beispiel hätte längst eine kritische
Neuausgabe verdient. Dieses Werk nämlich ist für die Befreiungsgeschichte der
Waldstätte viel wichtiger als die übrigen Texte und Dokumente.
Man
hätte zuerst überlegen sollen, bevor man ein großes und kostspieliges Werk
unternimmt. - Aber die Devise hieß offenbar: Zuerst etwas schaffen, nachher
überlegen.
Wenn
wir die verschiedenen Arten von Quellen Revue passieren lassen, sie kurz auf
ihren Wert und Unwert analysieren, so erkennen wir das ganze Elend der
Geschichtsforschung. Diese glaubt alles, was über die Vorzeit erzählt wird, mit
ihren Inhalten und Datierungen. Das kann nur gelingen, indem man die
Quellenkritik vernachlässigt. Diese ist ein Stiefkind der historischen
Forschung.
Bis
ins zwanzigste Jahrhundert existierte wenigstens da und dort eine kritische
Grundhaltung gegenüber alten Quellen. Danach haben sich die Verhältnisse ins
Gegenteil verkehrt. Heute dominiert eine geradezu verbrecherische Quellen- und
Überlieferungsgläubigkeit. Quellenkritik wurde ersetzt durch Quellenanbetung. Das
gilt für alle Arten von Überlieferung: geschriebene Dokumente, Kunstgegenstände,
Bauwerke: Diese Dinge stammen gemäß den heutigen Forschern aus den Zeiten und
von den Autoren, welche die Handbücher und Lexika nennen.
In
der Geschichtswissenschaft herrscht eine Art philosophischer Nominalismus: Die
Quellen sind echt und die behaupteten Zeiten ebenfalls, weil das so bestimmt
worden ist. Zweifel und Veränderungen sind ausgeschlossen. Man muß diese
Geschichte auch glauben, wenn sie absurd ist. Credo quia absurdum!
Die
neuere schweizergeschichtliche Forschung weiß von der Quellenproblematik. Zum
Beispiel stellt der Historiker Michael Jucker fest, daß in der Zeit „um 1470“
ein deutlicher Verschriftlichungsschub einsetzt (Jucker, 2004). – Aber dieses
„Spätmittelalter“, in welchem die Quellen zu sprudeln beginnen, muß um drei Jahrhunderte
nach vorne verschoben werden.
Die
älteste Quellenüberlieferung ist ausschließlich handschriftlich, weil der
Buchdruck erst später erfunden wurde.
Nicht
einmal dieser scheinbar einleuchtende Lehrsatz der historischen Quellenkunde
stimmt, wie wir bald sehen werden. – Aber lassen wir die Aussage fürs erste.
Die
alten Texte wurden zuerst auf Papyrus, dann auf Pergament geschrieben, weil das
Papier erst später erfunden wurde.
Auch
dieser zweite Lehrsatz der Quellenkunde ist unrichtig.
Schon
am Anfang unserer kurzen Betrachtung über die alten Handschriften haben wir es
also mit unbewiesenen und falschen Behauptungen zu tun. Wir gehen die Axiome
der handschriftlichen Überlieferung im Einzelnen durch.
In
den europäischen Bibliotheken und Archiven lagern riesige Bestände an
Handschriften. Sie bilden den Stolz jener Institutionen und werden von ihnen
dementsprechend herausgestrichen.
Wer
wollte nicht vor Demut stumm werden über die erwähnten Schätze der Sankt Galler
Stiftsbibliothek oder der einzelnen Kantons- und Universitätsbibliotheken! Eine
Aura der Ehrfurcht vor angeblich uralten Schriften wird geschaffen, die einer
kritischen Betrachtung abträglich ist. – Es geht hier um Quellenanalyse, nicht
um Quellenbewunderung.
In
Cologny bei Genf gibt es die bekannte Handschriftensammlung der Bodmeriana,
genannt nach dem Schweizer Mäzen Martin Bodmer. Dieser sammelte zwischen 1930
und 1970 die erlesensten Kostbarkeiten, um das schriftliche Vermächtnis der
Menschheit zu dokumentieren.
In
der Sammlung Bodmer kann man etwa Papyrustexte mit dem Johannesevangelium
bewundern, die angeblich weniger als hundert Jahre nach dem Tode Jesu
geschrieben worden sind. - Man darf ruhig sagen, daß Bodmer aus hehren Absichten
die primitivsten Textfälschungen des 20. Jahrhunderts erworben hat.
Wie
bestimmt man überhaupt das Alter von Handschriften?
Die
Forscher huldigen hier einem doppelten Positivismus, dem des Inhalts und dem
der Schrift.
Eine
Evangelien-Handschrift ist grundsätzlich schon „ab dem 2. Jahrhundert nach
Christus“ möglich – weil der Beginn der Redaktion der Frohbotschaft sage und
schreibe vor 1900 Jahren begonnen habe.
Und
eine Handschrift ließe sich auch nach der Schrift datieren. Eine Capitalis sei
älter als eine Unziale, und die karolingische Minuskel immerhin Jahrhunderte
älter als die spätmittelalterlichen und Renaissance-Schriften.
Die
Sache mit den „mittelalterlichen“ Schriften ist ein einziger riesiger Betrug.
Schon Kammeier hat festgestellt, daß die angebliche Schriftentwicklung ein Phantasieprodukt
ist (Kammeier, 166).
Die
Unterschiede in alten Schriften sind konstruiert. Mehr noch: Ob „spätrömisch“
oder „mittelalterlich“, jede Buch- und Urkundenschrift zeigt bei genauer
Betrachtung, daß dort die gotische Schrift einer einzigen Schreibepoche durchscheint.
Und diese Zeit unterschreitet nicht die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Das
muß so sein. Ein Schreiber kann unmöglich über längere Abschnitte seine
gewohnte Schreibweise verleugnen. „Die mittelalterlichen“ Schriften haben also
nichts mit einem Zeitablauf zu tun, sondern sind in Fälschungsabsicht
hergestellte Kunstprodukte.
Vielleicht
die berühmteste „karolingische“ Handschrift in der Schweiz ist der sogenannte Abrogans, der in der Stiftsbibliothek Sankt
Gallen aufbewahrt wird. Es ist dies ein Wörterbuch, das lateinische Ausdrücke
ins Althochdeutsche überträgt. Das Werk gilt als Kostbarkeit für die
Germanisten, die sich daran laben, daß sie hier das älteste deutsche
Sprachzeugnis, „etwa 1200 Jahre alt“, vor sich haben. – Aber leider werden wir
die Sprachforscher enttäuschen müssen: Die „karolingische“ Schrift wurde erst um
vielleicht 1770 erfunden.
Und
überhaupt ist die Geschichte des Klosters Sankt Gallen, wie bereits erwähnt,
die eines 800-jährigen Verfalls: Im „Hochmittelalter“ wurde noch viel
geschrieben, im „Spätmittelalter“ schon weniger.
In
den beiden letzten Jahrhunderten seiner Existenz – bis zur Aufhebung während
der Napoleonischen Zeit – leisteten die Mönche überhaupt nichts mehr Produktives:
Von einer qualitativ hochstehenden und
breit abgestützten St. Galler Buchkunst kann im 17. oder 18. Jahrhundert nicht
mehr gesprochen werden (Cimelia, 10).
Der
Sachverhalt ist umgekehrt: Die dortigen Handschriften unterschreiten in keinem
Fall die historische Zeitbarriere des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts.
Auch
wenn man nichts von der jungen Entstehung der Handschriften wüßte, so müßte der
gesunde Menschenverstand dagegen sprechen, tausend- bis
tausendfünfhundertjährige Handschriften anzunehmen.
Wie
hätte man in alter Zeit solche Schriften sicher und über riesig lange Zeiträume
aufbewahrt? Die Manuskripte hätten ständig geschützt werden müssen vor Feuer,
Wasser, Diebstahl, Tierfraß, organischer Zersetzung – und dies ohne die
modernen Techniken der Konservierung.
In
alten Chroniken wird ständig von verheerenden Stadtbränden berichtet. -
Merkwürdigerweise haben diese der Textüberlieferung überhaupt nicht geschadet.
Es gibt nirgends Beispiele von angebrannten oder halbverbrannten Pergamenten.
Die
Sache mit den alten Handschriften ist auch von den langen Zeiträumen her zu
widerlegen. Normalerweise stammt ein Text aus der Zeit, in der er überliefert
worden ist – und das ist ausnahmslos die Neuzeit, wie wir sehen werden.
Eine
andere Masche, um ein angeblich hohes Alter von Handschriften zu begründen, ist
das oft verbreitete Märchen, daß irgendein findiger Forscher in einer
Bibliothek oder einem Archiv längst vergessene Aufzeichnungen gefunden habe.
Beispielsweise
habe der Humanist Poggio Bracciolini – Conrad Ferdinand Meyer setzte ihm mit
seinem Plautus im Nonnenkloster ein
literarisches Denkmal – während des Konstanzer Konzils „1415 und 1416“ mehrere
Abstecher ins Kloster Sankt Gallen gemacht und dort zahllose römische
Schriftsteller entdeckt: Quintilian, Valerius Flaccus, Pedianus, Lukrez, Silius
Italicus, Ammianus Marcellinus (Baldauf, 5 ff.).
Aber
die Quellen lassen einen im Unklaren, ob Poggio die Manuskripte abgeschrieben,
ausgeliehen oder gestohlen hat. Und weshalb waren die Sankt Galler Mönche so ungebildet,
daß sie nicht ahnten, was für literarische Schätze in ihrem Kloster herumlagen?
Das
ist nur eine von Dutzenden von haarsträubenden Auffindungsgeschichten, welche
die Humanisten erfunden haben, um zu verheimlichen, daß sie selbst die Texte
geschrieben haben.
Die
Handschriftenforscher haben sich unendliche Mühe gegeben, Schriften zu
vergleichen und so einen „reinen“ Text, etwa der Bibel herzustellen. – Dabei vergessen
die Gelehrten, daß diese Handschriften alle aus der gleichen Zeit stammen und
sich somit kaum feststellen läßt, was älter oder jünger ist.
Schlimmer
noch: Hinter diesem Wirrwarr verschiedener Manuskripte steht eine bewußte
Fälscherabsicht. - Weshalb etwa wurden vier Evangelien geschaffen, wo doch eine
Frohbotschaft gereicht hätte?
Auch
bei Chroniken über die alte Eidgenossenschaft, etwa dem Berner Diebold
Schilling, gibt es eine komplexe und letztlich unentwirrbare Folge von
Fassungen. Aber dieses Durcheinander wurde künstlich geschaffen, um eine
Entstehung über Jahre und Jahrzehnte behaupten zu können.
Die
„antiken“ griechischen und römischen Schriftsteller sind uns sämtlich nur aus
„mittelalterlichen“ Handschriften überliefert. Aber aus welcher Zeit stammen
diese?
Wir
ahnen es: Die Schriftüberlieferung des Altertums und des Mittelalters sind in
einer einzigen Zeit geschaffen worden, wie dies schon vor über hundert Jahren
der geniale Philologe Robert Baldauf erkannt hat (Baldauf, 98).
Hinter
dem Namen Baldauf versteckt sich nach neuen Erkenntnissen der Altphilologe
Friedrich Nietzsche.
Eine
alte Handschrift und damit ein alter Autor dürfen nicht nach den willkürlichen
Zuschreibungen und Datierungen eingeordnet werden, sondern nach der Zeit des
Bekanntwerdens, der Verbreitung und der Wirkung.
Als
Beispiel soll die prachtvoll illustrierte sogenannte Manessische
Liederhandschrift erwähnt werden.
Angeblich
entstand dieses Sammelwerk der mittelhochdeutschen Dichtung „um 1370“ in Zürich
oder in der Ostschweiz. Aber bekannt geworden ist das Buch-Juwel erst „gegen
Ende des 16. Jahrhunderts“ – und auch das ist noch viel zu früh. - Was tat ein
Manuskript fast drei Jahrhunderte im Verborgenen? Wer hat es aufbewahrt, wer
gepflegt?
Man
kann jedes beliebige alte Dokument untersuchen, sei dies nun eine Urkunde, eine
Chronik oder eine alte Dichtung. Immer ergibt sich, daß das Werk erst in der
Renaissance oder im Barockzeitalter entdeckt oder bekannt wurde.
Konventionelle
Forscher räumen häufig ein, daß nicht Originale überliefert worden seien,
sondern Abschriften. Aber die Sache mit den „Abschriften“ ist höchst
verdächtig, wie wir an mehreren Beispielen sehen werden.
Beispielsweise
soll die Zürcher Reformationschronik von Heinrich Bullinger „um 1550“
geschrieben worden sein. Aber erhalten ist das Geschichtswerk nur in einer
Abschrift von „1605“.
Viele
alte Handschriften sind auf Pergament geschrieben. Das war erstens ein
dauerhafter Beschreibstoff und in ganz alter Zeit auch der einzige neben dem in
Europa ungebräuchlichen Papyrus.
Aber
der Sachverhalt ist so nicht richtig.
Als
die heute bekannte Schriftkultur aufkam, gab es bereits Papier. Weshalb wählte
man häufig gleichwohl die viel teurere Tierhaut? – Auch das hat mit Fälschung
zu tun: Pergament gibt den Anschein von hohem Alter und läßt offenbar kritische
Einwände zum Vornherein verstummen.
Wenn
die alten Handschriften gar nicht so alt sind, kommt die zweite Grundannahme
der handschriftlichen Textüberlieferung ins Wanken. Zu der Zeit, als diese
Schriften geschrieben wurden, gab es bereits den Buchdruck.
Was
soll das? Da wurden also Tausende von kleineren und größeren Texten, ganze
Bücher, riesige Werksammlungen von Hand abgeschrieben, wenn man es doch viel
bequemer mit der schwarzen Kunst hätte machen können!
Mit
der Geschichte des Buchdrucks und mit den Handschriften stimmt etwas nicht.
Bisher
galt als historische Grundwahrheit, daß der Buchdruck „kurz nach der Mitte des
15. Jahrhundert“ von einem gewissen Johann Gutenberg aus Mainz erfunden wurde.
Dieser Mann soll das erste Buch gedruckt haben. Und als Text wählte er
natürlich die Grundlage des christlichen Glaubens, die Bibel. Eine
zweiundvierzigzeilige sogenannte Gutenberg-Bibel wird heute als kostbare
Rarität gehandelt.
Bücher
aus den Anfangsjahrzehnten des Drucks heißen Wiegendrucke, weil diese
technische Erfindung damals angeblich noch in den Kinderschuhen steckte.
Unterdessen
haben Forscher herausgefunden, daß der berühmte Johannes Gutenberg ein
notorischer Querulant war und gar kein Buch gedruckt hat. – Es muß sich um eine
Kunst-Figur handeln.
Und
die sogenannten Wiegendrucke sind undatiert. Das aber spricht nicht für eine
frühe Entstehungszeit, sondern für Fälschungsabsicht. Man wollte damit ein
hohes Alter vortäuschen.
Ein
kurzer Blick auf frühe Drucke im Gebiet der alten Eidgenossenschaft zeigt
exemplarisch, wie verschwommen die zeitliche Bestimmung von frühen gedruckten
Büchern ist.
Normalerweise
muß man annehmen, daß sich eine technische Erfindung schnell und gleichmäßig
verbreitet. Aber mit dem Buchdruck war das offenbar nicht so.
Die
frühesten Druckzentren lagen am Rhein, von Mainz bis Straßburg, behauptet das
Geschichtsbuch. „Gegen 1500“ soll die schwarze Kunst in Basel angekommen sein, „um
1530“ in Zürich. In Bern hingegen soll erst „1537“ eine Druckerei eingerichtet worden
sein; in Freiburg im Üechtland sogar erst „1585“.
Kann
jemand die schleppende Verbreitung des Druckwesens auf einem so kleinen Gebiet
wie der Schweiz und Süddeutschland vernünftig erklären?
Und
wenn man frühe eidgenössische Druckerzeugnisse kritisch betrachtet, wird die
Verwirrung vollständig. Ein paar Beispiele sollen das beleuchten.
Basel
war bekanntlich die große schweizerische Humanisten-Stadt. Deshalb kamen dort
frühe und wichtige Werke heraus.
Neben
Zürich nahm Bern ohne Verzug die Reformation auf. Bereits „1523“ erließ die
Berner Regierung ein Predigt-Mandat zum Nutzen und Frommen aller Prediger in
seinem Herrschaftsgebiet. Da man angeblich noch keine eigene Druckerei hatte,
ließ man das Dekret in Basel drucken (Abbildung 3).
Das
Berner Predigtmandat ist ein dicker Brocken für einen kritisch urteilenden
Historiker. Auf dem Druckblatt fällt die reich ornamentierte Initiale W auf. –
Angeblich habe diese der bekannte Berner Dichter und Künstler Niklaus Manuel
Deutsch geschaffen.
In
der Initiale findet sich auch eine figürliche Darstellung: Da schießt ein Wilhelm
Tell seinem Sohn mit der Armbrust den Apfel vom Kopf!
Die
Tell-Illustration führt geradewegs zur „frühesten“ gedruckten Chronik der
Schwyzer Geschichte, der Kronica von der
loblichen Eydtgnoschaft, jr harkommen und sust seltzam strittenn und geschichen
von Petermann Ettelin, „1507“ in Basel erschienen.
Bei
dieser Gelegenheit soll auf das sonderbare Deutsch des Titels hingewiesen
werden. Angeblich ist es frühes Neuhochdeutsch.
Aber
bei vielen alten Darstellungen kommt man der Verdacht hoch, die Chronisten
hätten absichtlich in altertümelnder Sprache geschrieben, um ein höheres Alter
ihrer Texte vorzuspiegeln.
Abbildung 3: Das Berner Predigt-Mandat von "1523"
(linker Teil)
Die Initial-Block W (WJr der Schulthes) enthält eine Darstellung
von Tells Apfelschuß.
Staatsarchiv Bern: B III 38,
p. 193
Das Berner Predigt-Mandat von „1523“
Mit Datum Viti und Modesti („15. Juni 1523“)
ließ die Berner Regierung ein Mandat an alle Geistlichen, Vögte und
Regierungsmitglieder drucken, worin sie offiziell Stellung zu den immer stärker
werdenden reformatorischen Tendenzen nahm.
Das Dekret fordert
die Geistlichen auf, nur das zu predigen, was in den vier Evangelien, dem
heiligen Paulus, den Propheten und dem Alten und Neuen Testament steht. – Im
Besonderen solle man alles auslassen, was vom
Luther oder anderen Doctoribus geschrieben und gesagt werde.
Da Bern zu dieser
Zeit noch keine eigene Druckerei besaß, wurde das Mandat in Basel gedruckt –
angeblich in einer Auflage von tausend Stück. – Erhalten hat sich aber heute
nur noch ein Exemplar.
An dieser Geschichte
stimmt überhaupt nichts:
Die Reformation -
oder besser gesagt die Glaubensspaltung - kann erst nach dem mittleren 18.
Jahrhundert stattgefunden haben.
Der Buchdruck ist ebenfalls
um diese Zeit aufgekommen.
Die biblischen
Schriften, auf welche das Mandat Bezug nimmt, haben auch erst um diese Zeit
existiert.
Aber das
Ungeheuerlichste an diesem Druck ist die Initiale W für Wir.
Der Anfangsbuchstabe
hat als Hintergrund ein Bildchen mit einer Darstellung von Tells Apfelschuß! –
Man glaubt sogar sicher zu sein, daß der Berner Künstler und Dichter Niklaus
Manuel Deutsch diese Grafik geschaffen habe.
Die Tell-Sage ist,
wie die ältesten chronikalischen Aufzeichnungen, erst vielleicht ab 1760
schriftlich und bildlich greifbar.
Die Fälscher dieses
Mandats meinten wohl, mit einem Bild von Wilhelm Tell ein so frühes Datum des
Druckes besser begründen zu können. Geschichtsanalytisch aber entlarven sie
sich eben dadurch.
Gewisse Passagen des
Mandats sind amüsant zu lesen:
Beispielsweise steht
geschrieben, daß es gewissenhafte Prediger gebe, die dann aber von anderen Ketzer,
Schelme und (Spitz-)Buben genannt werden!
Der abgebildete
Bild-Buchstabe ist übrigens kein Unikat. Der Zürcher Buchdrucker Froschauer
verwendete ihn für eine Bibelausgabe und für einen gedruckten Zwingli-Brief.
Eigentlichen
Quellenwert schreibt man der Etterlin-Chronik nur für den Burgunderkrieg zu.
Und gerade für die „Zeitgeschichte“, also die Jahre vor dem angeblichen
Druckdatum, wird der Chronist unzuverlässig und bricht schließlich ganz ab.
Berühmt
ist Etterlins Druckwerk, dieses Programm
einer gesamteidgenössischen Chronik (Bodmer, 60) nicht wegen des
mittelmäßigen Textes, sondern wegen seiner Holzschnitte.
Besonders
zwei Bilder aus Etterlin sind es, die in fast jedem illustrierten
Geschichtswerk über die alte Eidgenossenschaft wiedergegeben werden: das Bild
von der Besiedlung der Waldstätte und die Tell-Szene.
Das
letztere Bild schafft einen Zusammenhang mit der erwähnten Tell-Abbildung in
der Initiale des Berner Predigtmandats – auch mit der Darstellung aus einer
Handschrift (Abbildung 25). Diese stammen aus der hohen Zeit der
Geschichtsschöpfung, sind also zeitgleich.
Das
Verhältnis zwischen Handschriften und Drucken ist völlig anders als von der
konventionellen Wissenschaft dargestellt.
Bisher
galt das Axiom, daß Handschriften grundsätzlich älter sein können als Drucke,
weil der Buchdruck später erfunden wurde.
Eine
genaue Betrachtung läßt jedoch keinen Altersunterschied zwischen Drucken und
Handschriften feststellen.
Mehr
noch: Am Anfang der Schriftüberlieferung gab es nur gedruckte Bücher. Die
Handschriften folgten nachher, bedingten den Buchdruck.
Damit
fällt eine kapitale Behauptung der Textüberlieferung.
Zu
der Zeit, als man begann, die alten Texte niederzuschreiben, existierte die
schwarze Kunst schon.
Grundsätzlich
stehen Druckausgaben alter Werke vor den Handschriften. – Ausnahmen machen nur
Texte, die nicht gedruckt wurden.
Weshalb
schrieb man riesige Mengen Handschriften – religiöse und literarische Werke,
Urkunden, Codices, Manuale, Rechnungsbücher - wenn der Buchdruck schon
existierte und sich anbot?
Hier
unterschätzt man die Triebfedern der Großen Aktion.
Inschriften
in Stein oder Metall sind grundsätzlich dauerhafter als Papier und Pergament.
Und weil deren Herstellung mehr Aufwand erfordert, so könnte man meinen, daß
hier die Fälschungsgefahr geringer sei. – Aber das ist nicht der Fall.
Inschriften
gibt es im Allgemeinen nur aus der „Antike“, nicht aus dem „Mittelalter“. Das
ist die genaue Umkehrung zu den Urkunden: Diese decken das „Mittelalter“ ab,
nicht das „Altertum“. – Ein Zufall oder eine Grundsatzentscheidung der Leute,
welche die Geschichtserfindung steuerten?
Nun
werden die Forscher einwenden, daß es sehr wohl und viele „mittelalterliche“
Inschriften gebe. - Aber stammen diese Dokumente wirklich aus der behaupteten
Epoche?
Man
braucht nur ein paar Beispiele genauer zu betrachten, um festzustellen, daß die
Inschriften die gleichen unlösbaren Probleme schaffen wie die Handschriften.
Im
Ausstellungskatalog Bildersturm
(2001) wird als Beispiel für das reformatorische Wüten gegen Bildwerke unter
anderem das prächtige Grab des Priors Henri de Sévery erwähnt, der „von 1371
bis 1380“ dem Kloster Romainmôtier im Waadtland vorstand.
Dieses
angeblich von dem Geistlichen errichtete Monument wurde bei der Einführung des
neuen Glaubens in tausend Stücke zerschlagen. Vollständig erhalten und im
Historischen Museum Lausanne ausgestellt ist die Liegefigur, weil sie zu einem
Brunnenstock umfunktioniert wurde.
Beide
Langseiten der Figur ziert ein gotisches Schriftband, welches von diesem Sévery
erzählt.
Die
Fundumstände des Prachtgrabes sind unverdächtig: Die Fragmente wurden 1986 – im
gleichen Jahr wie der Skulpturenfund von der Plattform des Berner Münsters –
entdeckt.
Aber
gotische Schriftbänder auf einem Grabmonument des 14. Jahrhundert? – Die Gotik blühte
ab der Mitte des 18. Jahrhunderts.
Der
1986 entdeckte Berner Skulpturenfund ist erwähnt worden. Dort gibt es einige
Jahrzahlen und kurze Inschriften – und alle in der gleichen gotischen
Inschriften-Schrift geschrieben. Beispielsweise die Standfigur eines männlichen
Heiligen (Sladeczek, 328 ff.) mit einer Widmung: Meinrat der gol(d)smit mcccc (1500). Dieser Goldschmied ist um
diese Zeit auch urkundlich belegt – aber das will nichts heißen.
Viel
klarer, weil offensichtlich eine barocke Fälschung, ist die lateinische
Inschrift an einer alten Glocke in der ehemaligen Propstei Wagenhausen, am
linken Rheinufer gegenüber Stein am Rhein. Eine
Glocke, so alt wie die Eidgenossenschaft, betitelte die Neue Zürcher
Zeitung vor Jahren einen Bericht über diesen Kunstgegenstand (NZZ, 31.7.2002).
Und weshalb? Weil die gotische Inschrift neben der Widmung an die Muttergottes „1291“
als Stiftungsjahr angibt!
Nun
ist die Vorstellung, eine Glocke läuten zu hören, die genau im angeblichen
Gründungsjahr der Schwyzer Eidgenossenschaft eingeweiht wurde, ganz hübsch.
Aber nur ein Fingerhut kritischer Geschichtsanalyse widerlegt diese Behauptung.
Der
Dachreiter, in welchem die Glocke von Wagenhausen angebracht ist, stammt sicher
aus dem 18. Jahrhundert. Der Klangkörper wurde erstmals „1679“ erwähnt – immer
noch zu früh, aber nicht mehr weit von der sicheren Entstehungszeit entfernt.
Zudem
gleicht die Marienglocke von Wagenhausen in Form und gotischer Inschrift
derjenigen der Pfarrkirche des benachbarten Ortes Burg an der Stelle des früheren spätrömischen Kastells Tasgetium. –
Statt beide Klangkörper der Geschichtszeit zuzuweisen, wo sie hingehören, wird
„Ende des 13. Jahrhundert“ angenommen!
Wie
kann man ein Datum „1291“ glauben, wenn die nächste Erwähnung vierhundert Jahre
später ist?
Auch
aus dem Bernbiet sind zwei alten Glocken mit fragwürdigen Datierungen und
Inschriften zu erwähnen.
Da
gibt es eine Kirchenglocke, die der lateinischen Schutzinschrift zufolge „1434“
gegossen und in Romont verwendet wurde.
„1475“
holten die Berner den Klangkörper nach Bern – gewissermaßen als Teil der
„Burgunderbeute“. Die Glocke von Romont soll hernach in Belp, dann in
Zimmerwald gedient haben und befindet sich heute im Historischen Museum Bern (Bildersturm, 165).
Und
aus der ehemaligen Wallfahrtskirche Oberbüren bei Büren an der Aare hat sich
ein Glockenfragment von angeblich „1508“ erhalten. Dargestellt ist ein
sogenanntes Bern-Rich, ein Reichsschild mit Bügelkrone und zwei sich
zugewandten bernischen Standeswappen (Bildersturm,
253). - Aber heraldisch sind die Bügelkrone und die ganze Anordnung der
Elemente erst im 18. Jahrhundert möglich.
Die
Kunsthistoriker, welche das angeblich hohe Alter von Kirchenglocken nachbeten,
vergessen die Technikgeschichte. Auch diese stellt unbequeme Fragen: Ab wann beherrschte
man die Technik, Klangkörper von mehreren Zentnern Gewicht fehlerfrei zu
gießen?
Wenigstens
sind die „römischen“ Inschriften alle echt, könnte man meinen – aber nur so
lange, wie man keine Einwände erhebt. Denn die Masse der „antiken“ Inschriften
stellt bei näherem Zusehen teilweise alptraumhafte Probleme, so daß man diese
Quellen bald wieder fallenläßt.
Auch
aus der Schweiz sind uns zahllose „römische“ Inschriften bekannt. Die Auswahl
der wichtigsten Dokumente bei Gerold Walser (1979/80) ist auf drei kleine Bände
verteilt. Und noch immer kommen bei Ausgrabungen neue Inschriften zu Tage.
Die
meisten schriftlichen Zeugnisse in Stein aus der Römerzeit sind Grab-, Weih-,
Widmungs- und Ehreninschriften, die zwar eine Menge Namen nennen, oft etwas
über Berufe, Beamtenfunktionen, die Götterwelt und andere Dinge aussagen, deren
Quellenwert aber nicht überschätzt werden darf.
Für
aufschlußreich halte ich die „römische“ Inschrift über die Erbauung des
Wachtturms bei Koblenz im Kanton Aargau, an einer Stelle, die Summa rapida genannt wurde (Abbildung 4
oben).
Die
Inschrift gilt wegen ihren teilweise unbeholfenen Lettern und ihrer rustikalen
Sprache als spätrömisch – was richtig ist. Aber jene Spätzeit ist identisch mit
der Frühzeit der Eidgenossen, dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts.
Und
der Bau eines Wachtturms am linken Ufer des Hochrheins muß einen realen
Hintergrund haben. Wir finden ihn in der eidgenössischen Geschichtserfindung in
dem „Schwabenkrieg“. – Eine solche Konfrontation muß stattgefunden haben. Aber
mit den „Römern“ waren wohl frühe Eidgenossen gemeint, die gegen die anderen
„Römer“, die man später Schwaben nannte, kämpften.
Abbildung 4: Zwei römische Inschriften
aus Helvetien
Oben: Inschrift über
die Errichtung eines Wachtturms bei den Oberen Stromschnellen (Summa Rapida)
am Rhein bei Koblenz
(Kanton Aargau)
aus: Andres Furger: Die Schweiz zur Zeit der Römer; Zürich
2001; 289
Unten: Detail einer Inschrift
von „377 AD“ über die Restaurierung eines Gebäudes. Gefunden in Sion – Sitten
(Wallis).
Das Christogramm befindet sich in der Mittelzeile rechts und ist
von einem Alpha und Omega flankiert.