Christoph Pfister

 

Die alten Eidgenossen

 

Die Entstehung der Schwyzer

Eidgenossenschaft im Lichte der

Geschichtskritik und die Rolle Berns



 

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Historisch-philologische Werke 2

 

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Cover-Bild:

Berner Bannerträger anläßlich des Festumzugs von 1853

aus:

Peter Jezler/Peter Martig

Von Krieg und Frieden

Bern und die Eidgenossen bis 1800

Bern 2003, 4

 

Titel-Bild:

Gebet der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten

Monumental-Gemälde von Auguste Bachelin, 1869

Schweizer Privatbesitz

Vergleiche den Kommentar auf Seite 10.

 

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Vollständig überarbeitete Neuausgabe des erstmals 2003 unter dem Titel Die Mär von den alten Eidgenossen und 2006, 2013 und 2019 unter dem Titel Bern und die alten Eidgenossen erschienenen Buchs.

 

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 Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Christoph Pfister

www.dillum.ch

Herstellung und Verlag:

Books on Demand, Norderstedt

ISBN 9783756821815

Mottos

Was wollen wir der alten Griechen Gedichte,

oder der Römer lesen manche Geschichte?

Wir haben hier die Taten der Eidgenossen,

von denen wir uns rühmen sein entsprossen:

Dies sind lauter große Heldensachen,

die uns billig zur Nachfolge lustig machen [= anleiten]:

In Treue, Liebe und Glauben nüchtern und ehrbar leben!

 

Johann Jakob Grasser: Schweizerisches Heldenbuch
(Schweitzerisch Heldenbuoch), Basel „1624“. Neudruck Bern 1968.

Als Demut weint und Hoffahrt lacht, da ward der Schweizer Bund gemacht.

Michael Stettler: Chronicon und Annales, Bern „1627“, S. 29

 

Il faut avouer que l’histoire de la pomme est bien suspecte et que tout ce qui l’accompagne ne l’est pas moins.

 

Man muß einsehen, daß die Geschichte des Apfelschusses sehr verdächtig ist und der ganze Rest der Erzählung ebenso.

Voltaire : Annales de l’Empire I (zum Jahr 1307)

(Übersetzung: Autor)

 

Wir sind in Ansehung der Geschichten unseres Vaterlands auf eine zweifache Weise unglücklich. Nichts fehlt uns weniger als Geschichtsschreiber: Nichts haben wir weniger als gute Geschichtsschreiber. Von unseren ältesten Zeiten haben wir keine gewissen Nachrichten. Die ersten zwei Jahrhunderte unserer Stadt brachten keine Geschichtsschreiber hervor. Die neuen Zeiten hingegen haben viele, allein nur seichte Nachschreiber gezeugt, welche den Namen eines Geschichtsschreibers mißbraucht und entheiliget.

 

Gottlieb Walther: Critische Prüfung der Geschichte von Ausrottung des Zäringischen Stamms durch Vergiftung zweier Söhnen Berchtolds V.; Bern 1765; Vorrede

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 Bemerkungen

AC bedeutet ante Christum (natum) = vor Christi Geburt

AD bedeutet Anno Domini = im Jahre des Herrn = nach Christi Geburt

Die fremdsprachigen (inbegriffen altdeutschen) Zitate sind vom Autor übersetzt worden.

Die Bibelzitate folgen der Zürcher Bibel von 1955.

Ältere deutsche Zitate sind soweit wie möglich dem heutigen deutschen Sprachgebrauch angepaßt worden.

Die Epochenbezeichnungen der älteren Zeit, besonders „Altertum“ und „Mittelalter“ sind wegen ihres problematischen Charakters grundsätzlich in Anführungszeichen gesetzt.

Ebenso sind alle Datumsangaben vor dem 18. Jahrhundert nach Christus, „9. Jahrhundert nach Christus“, „1291“, wegen ihrer Irrelevanz grundsätzlich in Anführungszeichen gesetzt.

Von Ausnahmen abgesehen wird von den Schwyzern geredet, wenn die Schweizer Eidgenossen gemeint sind. Dies deshalb, weil die erstere Form den religiösen Ursprung der Bezeichnung deutlicher hervortreten läßt. – Wenn damit die Leute und die Talschaft von Schwyz gemeint sind, so wird das im Text besonders vermerkt.

Falls lateinische Wörter und Namen auf ihre dahinterstehende Bedeutung untersucht werden, so ist vorweg zu bemerken, daß man bei der Analyse Akkusativ und Nominativ auseinanderhalten muß: MITHRIDATEM - Mithridates, - CALAMITATEM - calamitas oder – TYRUM - Tyrus. – Der Akkusativ ist wichtiger als der Nominativ, weil die am meisten gebrauchte Form in der Deklination.

Der vielfach genannte Berner Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts, Michael Stettler soll nicht mit dem gleichnamigen Berner Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts (Bücher: Bernerlob, Neues Bernerlob) verwechselt werden.

Inhalt

Erster Teil: Hinführung zum Thema 11

Die alten Eidgenossen: eine Wundermär? 11

Hie Eidgenossenschaft! 13

Ursprung der Freiheit 18

Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft 21

Das Bundesbriefmuseum in Schwyz 24

Die Stiftsbibliothek Sankt Gallen 25

Hie Schweizerland, hie Bern!  
Die Geschichte Berns von Richard Feller
29

Berns mutige, große, mächtige und goldene Zeit
oder der Bankrott der Berner Geschichtsforschung
33

 

Zweiter Teil: Quellen, Daten, Kunst, Bauwerke 41

Die große Geschichtserfindung und ihre Matrix 41

Die Quellen und ihr Alter 44

Handschriften 46

Drucke 51

Inschriften 56

Münzen 65

Kunstgegenstände 68

Zeitrechnung und Jahrzahlen 71

Ortsnamen und Personennamen 75

Urkunden 78

Chroniken 88

Justinger und die Berner Chronistik der beiden Stettler 94

Der Justinger-Anshelm-Stettler-Komplex 105

Die Helvetische Chronologie (Chronologia Helvetica)
von Johann Heinrich Schweizer (Suicerus)
114

Johannes Stumpf und seine große und kleine
Schwyzer Chronik
118

Die Chronik von Franz Haffner 125

Ägidius Tschudi und die eidgenössische Chronistik 129

Die Berner und Schwyzer Bilderchroniken 139

Die Dark Ages in der Schweizer Kunstgeschichte
zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert
145

Diebold Schillings Jammertal-Bild und das
pompejanische Mosaik der Alexanderschlacht
149

Überlegungen zur Baugeschichte und Architektur 154

Städtegründungen und Zähringer 166

 

Dritter Teil: Geschichte und Geschichten 182

Julius Caesar, die Helvetier und Aventicum 182

Bern und die Engehalbinsel 191

Die Laupen-Geschichte 194

Baselwind = Belisar & Amalasuntha 200

Von der Matte ins Jammertal:
der zweite Teil von Berns Troja-Geschichte
206

Woher stammt die Burgunderbeute? 213

Karl der Kühne, Alexander der Grosse und die Eidgenossen 219

Alexander der Grosse, Karl der Kühne, Mithridates, Aspendus,
Gordion, Aarberg und die Nibelungen
239

Bern und die Waadt 245

Die Gugler-Geschichte 248

Sempach, eine Jesus-Geschichte 252

Mordnächte und Stadttyrannen 258

Weitere Kriege der Eidgenossen, von Näfels bis Bicocca 261

Der Schwabenkrieg oder die Loslösung der Eidgenossen
vom Römischen Reich
270

Sinnzahlen in der älteren Geschichte der Eidgenossen 274

Reformation oder Glaubensspaltung? 287

Berner und Schwyzer Eidgenossenschaft 300

Der Schütze Ryffli und der Schütze Tell 306

Gründungssage und Wilhelm Tell im Urteil einiger Historiker 311

Das Rütli, Wilhelm Tell und Gessler 323

Der Ursprung der Schwyzer 334

Elemente einer möglichen wahren Entstehung
der Schwyzer Eidgenossenschaft
338

Für ein neues historisches Selbstverständnis der Schweiz 345

Literatur 352


Abbildungen

Abbildung 1: Hie Eidgenossenschaft - Die Schlacht am Morgarten 15

Abbildung 2: Titelseite von Wilhelm Oechsli: Die Anfänge der
Schweizerischen Eidgenossenschaft
, Zürich 1891
19

Abbildung 3: Das Berner Predigt-Mandat von "1523" 53

Abbildung 4: Zwei römische Inschriften aus Helvetien 59

Abbildung 5: Der Freiheitsbrief der Schwyzer von "1240" 85

Abbildung 6: Das sogenannte Weiße Buch von Sarnen 91

Abbildung 7: Zwei kolorierte Abbildungen aus der kleinen Chronik von Johannes Stumpf 119

Abbildung 8: Pompeji: Mosaik der Alexanderschlacht (Detail) 150

Abbildung 9: Spiezer Schilling: Die Schlacht im Jammertal 151

Abbildung 10: Alte Strukturen unter der Kathedrale Saint-Pierre in Genf 157

Abbildung 11: Das Grossmünster in Zürich auf einem Gemälde von Hans Leu dem Älteren 167

Abbildung 12: Spiezer Schilling: Die Vergiftung der Kinder des
letzten Herzogs von Zähringen
175

Abbildung 13: Titelbild einer kritischen Schrift von 1765 über die
angebliche Vergiftung der Zähringer-Erben
177

Abbildung 14: Die Flußschleifen der Aare von Bremgarten und der Enge bei Bern 189

Abbildung 15: Titelbild der Festschrift zum Jubiläum der Laupen-Schlacht 1939 197

Abbildung 16: Spiezer Schilling: Zweikampf zwischen einem Mann und einer Frau in der Matte in Bern, "1288" 207

Abbildung 17: Spiezer Schilling: Englisches Reiterheer vor Straßburg im Elsaß 249

Abbildung 18: Antonius-Figur aus dem Berner Skulpturenfund 297

Abbildung 19: Brunnenfigur von Wilhelm Tell in Schaffhausen 308

Abbildung 20: Brunnenfigur von Ryffli in Bern 309

Abbildung 21: Ernst Stückelberg: Wilhelm Tell und sein Sohn 325

Abbildung 22: Die Kantonsgrenzen von Solothurn 341

Abbildung 23: Beispiele für moderne Gebrauchsgeschichte: Historische Versatzstücke auf Schweizer Bierdosen 350

Abbildung 24: Drei Schweizer Briefmarken mit historischen Sujets: Tellskapelle (1938), Schlacht bei Giornico (1940),
Gründung Berns (1941)
360

 

Tabellen

Tabelle 1: Die Parallelen zwischen den Chronisten Michael Stettler, Valerius Anshelm und Konrad Justinger 100

Tabelle 2: Die Parallelen zwischen dem Laupenkrieg und dem Murtenkrieg 195

Tabelle 3: Die Parallelen zwischen Alexander dem Grossen, Karl dem Kühnen und den Eidgenossen 220

Tabelle 4: Numerologisch bedeutende Daten aus der Geschichte der alten Eidgenossen 275

Tabelle 5: Die Lebensdaten von Hildebrand - Gregor VII. 278

Tabelle 6: Christus-Chronogramme in der erfundenen Geschichte der alten Eidgenossen 279

Tabelle 7: Die Parallelen zwischen der Befreiungsgeschichte Berns und der Waldstätte 301

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Zur Titel-Abbildung: Auguste Bachelin, Gebet der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten

Die Geschichtsmalerei als Teilgebiet der bildenden Kunst erlebte im 19. Jahrhundert mit den geistigen Tendenzen des Historismus eine Hochblüte. Es wurden bevorzugt Motive aus der erfundenen antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte genommen.

Der Neuenburger Maler Auguste Bachelin (1830 – 1890) leistete mit einigen seiner Werke einen wichtigen Beitrag zu den historischen Vorstellungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

1867 hielt er in zwei Gemälden das Leben der Pfahlbauer im Gebiet von La Tène am Neuenburger See fest. So gab er der damals durch die Entdeckungen an verschiedenen Schweizer Seeufern entflammten Pfahlbau-Begeisterung eine illustrative Grundlage.

Das hier abgebildete, 1869 entstandene Monumentalgemälde Gebet der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten verdient ein paar Erläuterungen.

Die gelungene Komposition und die ausgewogene Farbigkeit des Bildes verdienen hervorgehoben zu werden. Das Gemälde ist eindrucksvoll, aber weder schwülstig noch pathetisch.

Bachelin scheint für seine Darstellung klassische Vorbilder verwertet zu haben: Die Übergabe von Breda von Velazquez und das Alexander-Mosaik aus Pompeji scheinen durch.

Das Dekor entspricht dem, was man sich damals unter einer bestimmten Geschichte vorstellte, ist also zutiefst unhistorisch: Die fast unheimlich großen Fahnen verraten die Zeit der Entstehung. – Die Rüstungen, die mehrere Krieger tragen, sind wohl nie im Kampf verwendet worden. – Die Langspeere, welche die Silhouette des eidgenössischen Harsts bilden, sind Entlehnungen aus chronikalischen Schlacht-Illustrationen.

Nach Bachelin ist die Schweizer Historienmalerei für Jahrzehnte in teilweise unerträglich schwülstigen Pathos und in leere Monumentalität hinabgesunken. Das belegen etwa die Gemälde von Karl Grob oder Eugène Burnand. – Das bekannte Murtenschlacht-Panorama von Louis Braun 1893 markiert den Gipfel einer degenerierten Geschichtsillustration.

Das Gemälde von Bachelin war bis 2005 im Speisesaal des Hotels Weißes Kreuz in Murten zugänglich. Nach dem Verkauf der Liegenschaft kam das Bild in Privatbesitz.

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Erster Teil: Hinführung zum Thema

Die alten Eidgenossen: eine Wundermär?

Die ältere Vergangenheit der Schwyzer Eidgenossen ist sicher schon vielen merkwürdig vorgekommen. Man denkt an den Rütlischwur, an Wilhelm Tell und vor allem an glorreiche Schlachten, von Morgarten über Murten bis Marignano.

Bis ins 16. Jahrhundert soll diese alteidgenössische Heldenzeit gedauert haben. Nachher veränderte sich das Bild grundlegend. Die Reformation kam und damit wurde die Geschichte der Schweiz plötzlich ereignisarm. Sicher erlebte auch die alte Eidgenossenschaft vor 1798 bedeutsame Augenblicke. Aber es waren vor allem innere Konflikte: der Bauernaufstand von 1653, die Villmerger Bruderkriege von 1656 und 1712, die Verschwörung des Majors Davel in der Waadt gegen die Berner Regierung und der Aufstand der Livinen - Leventina gegen ihre Urner Herren.

Bisherigen Forschern ist der rätselhafte Unterschied zwischen alter Heldenzeit und neuerer Ereignislosigkeit in der Schweizer Geschichte ebenfalls aufgefallen:

Das 17. Jahrhundert ist die Stille zwischen der Reformation und der Aufklärung (Richard Feller in: Nabholz: Geschichte der Schweiz, II, 5).

Weshalb hört der Schlachtenlärm der alten Eidgenossen plötzlich auf? – Steht dahinter vielleicht nur eine falsche Geschichte?

Man merkt ein Unbehagen angesichts der älteren Schwyzer Geschichte. Diese wird deshalb seit Jahrzehnten zurückgefahren. Große patriotische Feiern unterbleiben. Es wird nur noch wenig auf alteidgenössische Tugenden zurückgegriffen. In den Schulen befindet sich das Fach Geschichte auf dem Rückzug. Die Zeitgeschichte ersetzt die ältere Vergangenheit. Gleichlaufend nimmt das Interesse an den alten Sprachen, also Latein, Griechisch und Hebräisch ab. – Der Zugang zur älteren Geschichte unseres Landes wird immer schmäler.

Mit der Geschichte befassen sich Historiker. Spüren diese den Wandel und was meinen sie zu den Ursachen der breiten Abwendung von den alten Geschichten?

Man merkt tatsächlich, daß die veränderte weltpolitische Lage nach 1989 und das angefochtene Bundesjubiläum von 1991 sich in der historischen Diskussion niedergeschlagen haben. Die Geschichte der alten Eidgenossen steht nicht mehr felsenfest; sie wird hinterfragt. Dabei geht es längst nicht mehr um die angebliche Existenz von Nationalhelden wie Wilhelm Tell, sondern um die Frage, ob das Gesamtbild richtig sei.

Wenn der Historiker Roger Sablonier 1999 schreibt: Die sogenannte eidgenössische Staatsgründung von 1291 … ist eine Figur des politischen Diskurses, nicht der historischen Argumentation (Sablonier: Schweizer Eidgenossenschaft, 34), so werden damit die Fundamente unserer Überlieferung und des schweizerischen Geschichtsbildes in Frage gestellt. Es wird zugegeben, daß die ältere Geschichte der Eidgenossen nicht stimmt, daß sie aus Sagen und Legenden zusammengesetzt ist.

Noch deutlicher drückte sich schon früher Marcel Beck aus, der seine Festschrift zu seinem 70. Geburtstag mit Legende, Mythos und Geschichte betitelte und dabei die Epoche der alten Eidgenossen meinte (Beck, 1978).

Aber das überlieferte Bild der alten Eidgenossen besteht noch immer. Eine Revision wird gefordert, aber nicht ausgeführt:

Eine Abwendung von diesem Geschichtsbild hat im öffentlichen Bewußtsein trotz aller Kritik bis heute noch nicht stattgefunden, schreibt der Ägidius Tschudi-Herausgeber Bernhard Stettler (Stettler: Tschudi-Vedemecum, 67).

Es harzt bei der Umsetzung der Forderung. Es langt offenbar nicht, „neue Fragestellungen“ zu erfinden. Das ist schon mehrmals geschehen. Zuerst mit der Rechtsgeschichte, dann mit wirtschaftsgeschichtlichen und soziologischen Ansätzen versuchte man, die ältere Schwyzer Geschichte zeitgemäß zu interpretieren.

Hier vergißt man, daß es keinen Zweck hat, Retouchen an dem herkömmlichen Bild zu machen. Neue methodische Möglichkeiten und Einsichten fordert der erwähnte Roger Sablonier (Sablonier: Bundesbrief, 134). Doch wichtiger wäre eine grundsätzliche Kritik an der Überlieferung.

Dazu ist es aber außer in kleinen Ansätzen nicht gekommen. Bisher fehlten der Wille und vor allem die richtigen Werkzeuge, um die ältere Geschichte der Schwyzer Eidgenossen richtig anzugehen.

Hie Eidgenossenschaft!

Als Schüler hat mich ein kleines Werk beschäftigt und wurde mir zu einem Einstieg in die Welt der alten Eidgenossen. Das 62 Seiten starke Büchlein im Format 12 mal 19 cm ist in weißes Leinen eingebunden und trägt ein Schweizerwappen auf der vorderen Seite oben rechts. Wenn man das kleine Werk in der Hand hält, möchte man an einen Reisepaß denken. – Aber die Verbindung war vielleicht bewußt gesucht worden: Es sollte ein Paßbüchlein oder ein weltliches Brevier sein für den aufrechten Schweizerbürger.

Hie Eidgenossenschaft, wie der Titel des kleinen Werkes lautet, ist 1941, in politisch schwieriger Zeit und im Jahr des 650-Jahr-Jubiläums der Bundesgründung erschienen. Geboten wird ein Abriß der Schweizer Geschichte von den Helvetiern bis 1939 in Form von einzeln abgeschlossenen und mit je einer Illustration versehenen Seiten. Als Autor nennt sich ein Edgar Schumacher, der seines Zeichens Oberst war.

Die Bilder – sämtlich kolorierte Holzschnitte - stammen von dem Künstler Paul Boesch. Letzterer war in den 1940er Jahren ein gefragter Illustrator und hat auch historische Briefmarken gestaltet (Abbildung 33).

Der Inhalt ist in drei Abschnitte eingeteilt: Helvetier, Eidgenossen, Schweiz. Drei Seiten sind den Helvetiern gewidmet, der Hauptteil den Eidgenossen und der letzte Teil mit sechs Seiten der modernen Schweiz ab 1848.

Was mich an diesem Büchlein damals am meisten beschäftigte, waren die Schlachten der Eidgenossen, die auch das Kernstück ausmachen. Nach dem Bund von „1291“ findet sich bis zur Reformationszeit eine fast ununterbrochene Reihe von Schlachten und Kriegen dargestellt: Morgarten, Laupen, Sempach, Näfels, Vögelinsegg, Arbedo, Greifensee, Sankt Jakob an der Birs, Grandson, Murten, Giornico, Calven, Marignano, Kappel. Nur das Konzil von Konstanz und das Stanser Verkommnis unterbrechen die lange Kette von Kämpfen und Schlachten.

Nach der Reformation wird es ruhiger. Nur der Bauernkrieg, die Escalade von Genf, die Villmerger Kriege – letztere sonderbarerweise zu einer Seite zusammengefaßt – und die Verteidigung der Tuilerien werden als kriegerische Ereignisse bis zum Einmarsch der Franzosen 1798 erwähnt.

Hie Eidgenossenschaft ist gerade dadurch für das vorliegende Problem aufschlußreich, weil es einen Abriß der Schweizer Geschichte in gewaltiger Verkürzung bietet und einem kritischen Betrachter um so deutlicher die absurde historische Konstruktion aufzeigt.

Es beginnt schon bei den angeblichen Ureinwohnern der Schweiz, den „Helvetiern“. Da soll Julius Caesar dieses tapfere Volk „58 AC“ in Gallien besiegt und ihm befohlen haben, in seine Heimat zurückzukehren.

Dann gibt es eine undatierte Seite über das friedliche Leben in dem prachtvollen „römischen“ Aventicum und – ebenfalls undatiert – eine Erwähnung der christlichen Durchdringung Helvetiens.

Das erste, mit einer eindeutigen Jahrzahl versehene Geschichtsblatt ist die Gründung Berns „1191“. – Nach genau hundert Jahren folgt die Beschwörung des ewigen Bundes auf dem Rütli. Dann beginnt mit Morgarten „1315“ die Reihe von glorreichen Kämpfen und Schlachten der Eidgenossen.

Studiert man das in diesem patriotischen Brevier von 1941 gebotene Geschichtsbild genauer, kommen erste und grundsätzliche Fragen.

Da fällt zum Beispiel die gewaltige Zeitlücke auf zwischen den Helvetiern oder Römern und der Gründung Berns.

Vor 1900 Jahren soll Helvetien unter römischer Herrschaft geblüht haben und vor 1700 Jahren von den barbarischen Alamannen verheert worden sein. Zwischen dem Ende des prächtigen Aventicum und der Gründung des „mittelalterlichen“ Bern liegen aber acht- bis neunhundert Jahre, in welchen es offenbar im Lande nichts, aber auch gar nichts gab: kaum Menschen, keine Kultur, keine verläßlichen Überlieferung.

Gab es wirklich einen solchen Leerraum, oder ist das nur ein durch eine falsche Chronologie hervorgerufener virtueller Irrtum?

Und die kriegerische Vergangenheit der alten Eidgenossen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert? Ist sie wahr oder nur das schriftlich niedergelegte Ergebnis von barocken Geschichts- und Heldenphantasien?

Bei den alten Schwyzer Eidgenossen fällt zum Beispiel auf, daß diese zwar viel gekämpft haben, die Früchte ihrer Kriege aber mehr als mager und teilweise sogar ungünstig ausfielen.

Abbildung 1: Hie Eidgenossenschaft - Die Schlacht am Morgarten

Holzschnitt von Paul Boesch

aus: Hie Eidgenossenschaft, Bern 1941, 16

Morgarten - Boesch - NEU

 

  Hie Eidgenossenschaft! – Die Schlacht bei Morgarten

Kaum eine alteidgenössische Schlacht ist im populären Bewußtsein so bekannt wie Morgarten. – Man weiß zumindest, daß dort die Schwyzer Bauern gegen ein adeliges Heer der Österreicher oder Habsburger unter einem Herzog Leopold einen prächtigen Sieg errungen haben.

Auch die Taktik der Waldstätte ist ungefähr bekannt: Man lockte das feindliche Heer zu einem Engpaß am Aegeri-See und überfiel es dort. Dabei ließ man Felsblöcke und Baumstämme über die steilen Talhänge hinunterrollen. Die Ritter mit ihren Pferden wurden dadurch verwirrt, die Ordnung des Heeres kam durcheinander, viele Feinde wurden erschlagen oder ertranken im See.

Eine alle zwei Jahre gefeierte Schlachtjahrzeit erinnert an das angebliche Ereignis.

Dabei sind die heutigen Historiker grundsätzlich offen: Unsere Kenntnisse der Schlacht sind recht mangelhaft (Handbuch der Schweizer Geschichte, I, 189). – Das heißt im Klartext: Die Schlacht von Morgarten ist eine Geschichtserfindung.

Ein Ortstermin am Morgarten zeigt, daß sich der Kampf unmöglich so abgespielt haben kann wie das obige Bild behauptet: Steilhänge nämlich, um Baumstämme und Blöcke herunter zu rollen, gibt es in der fraglichen Gegend am Aegeri-See keine.

Eine kritische Analyse der Quellen zu Morgarten zeigt, daß diese Schlacht ein Parallel-Ereignis aus der erfundenen Berner Geschichte ist. Zuerst schlug Bern eine glorreiche Schlacht gegen die Habsburger. Die Waldstätte übernahmen diese angebliche Heldentat und wandelten sie entsprechend ab.

Die Schlacht bei Morgarten ist übrigens nach einer fiktiven antiken Schlacht gestrickt: Bekanntlich hätten die Griechen im Engpaß der Thermopylen ein zahlenmäßig überlegenes Heer der Perser zwar nicht zurückgedrängt, aber doch mit heldenhaftem Mut aufgehalten.

Und im biblischen Buch Judith werden die Vorbereitungen des Gebirgslands Israel zur Abwehr der Assyrer gleich geschildert wie die der Waldstätte gegen die Habsburger (Judith, 4, 1 ff.).

Der Holzschnitt von Paul Boesch von 1940/41 hat künstlerische Qualitäten. Er verwertet geschickt Anleihen von alten Schweizer Holzschnitten – etwa aus Petermann Etterlin – mit der neuen Sachlichkeit der 1930er Jahre.

Paul Boesch entwarf zu dieser Zeit auch eine Briefmarke zum Jubiläum der Stadt Bern (Abbildung 24).

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So haben die Eidgenossen die Burgunderkriege zwar siegreich beendet, aber im Ergebnis nicht einmal die Waadt gewonnen. – Das ist doch reichlich merkwürdig!

Und da in Hie Eidgenossenschaft jede Seite mit einer genauen Jahrzahl versehen ist, könnte man auch dort Argwohn schöpfen.

Ist es bloßer Zufall, daß die Eidgenossenschaft „1291“, also genau hundert Jahre nach der angeblichen Gründung Berns „1191“ geschaffen wurde?

Dann die nachreformatorische Geschichte der alten Eidgenossenschaft.

Wie gesagt gab es auch da kriegerische Auseinandersetzungen. Aber es waren allesamt Bruderkriege, Bürgerkriege und Aufstände einzelner Regionen, Gruppen und Personen. Diese Dinge sind viel weniger glorreich als die „spätmittelalterliche“ Heldengeschichte der Schwyzer Eidgenossen und werden deswegen auch weniger gern behandelt und beschworen.

Es gibt eine Sempacher Schlachtjahrzeit und eine Solennität in Murten, aber keine solche für die Villmerger Kriege.

Und weder der Ort Villmergen noch Samuel Henzi haben je ein Denkmal bekommen.

Dagegen hat man im 20. Jahrhundert sogar für das unbedeutende Geplänkel von Giornico am Rande des dortigen Tessiner Dorfes ein pathetisches Schlachtenmonument errichtet (Pfister: Historische Denkmäler in der Schweiz).

Als Fazit ergibt sich, daß nur die in unwirklicher Ferne angesiedelte erfundene Schwyzer Geschichte Stoff abgibt für Heldentaten und Glorienschein, nicht aber die wahre Überlieferung der letzten zwei bis drei Jahrhunderte.

Einen Jugendlichen mögen die knappen Texte und die eindrucksvollen Bilder von Hie Eidgenossenschaft faszinieren; und die schwierige Lage der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges rechtfertigte vielleicht das Erscheinen des Büchleins. Aber heute ist dieses ein Anstoß, an der älteren Geschichte der Eidgenossen zu zweifeln.

 

Ursprung der Freiheit

Seit den 1940er Jahren gab der Berner Verlag Paul Haupt die Schweizer Heimatbücher heraus. – Parallel dazu wurde auch eine Reihe Berner Heimatbücher geführt.

Bis in die 60er Jahre sind in jenen gleichlaufenden Reihen eine stattliche Anzahl Titel herausgekommen, alle mit ganzseitigen Illustrationen und schmalem Text.

Bei den Schweizer Heimatbüchern reicht die Themenvielfalt von Gottfried Keller über das Puschlav, den Greifensee, Schwyzer Bauernhäuser bis zu den Brissago-Inseln und die Luzerner Volkskunst.

Bei der Berner Reihe gehen die Titel vom Emmentaler Bauernhaus über bernische Landsitze, das ehemalige Kloster Münchenwiler, den Tierpark Dählhölzli bis zu Niklaus Manuels Totentanz und den Hohgant, die Bergkrone des Emmentals.

Vor kurzem entdeckte ich in der Schweizer Reihe einen Titel Ursprung der Freiheit. Historische Stätten in der Urschweiz.

Die 1965 erschienene Broschüre von Georges Grosjean verdient als kurze Zusammenfassung der Schwyzer Gründungslegende aus jener Zeit besprochen zu werden.

Der Verfasser war Professor für Geographie an der Universität Bern. Als solcher befaßte sich Grosjean auch mit historischen Themen. Unter anderem forschte er über die römische Landvermessung in der Schweiz.

Als Anlaß des schmalen Buches wird das 650-Jahr-Gedächtnis der Schlacht am Morgarten und des Bundesschwurs zu Brunnen „1315“ genannt.

Ursprung der Freiheit gibt zuerst die Quelle für die Bundesgründung der Waldstätte, die entsprechenden Passagen des Weißen Buchs von Sarnen wieder.

Anschließend wird der angebliche Freiheitskampf im Lichte der Urkunden und der modernen Geschichtsforschung beleuchtet.

Fazit dieser Übersicht ist für den Verfasser: Durch die neuesten Forschungen haben die Erzählungen der Bundeschronik ihren Platz in der Geschichte zurückerhalten. Rütli und Hohle Gasse, Tellenplatte und das Gemäuer der alten Burgen sind geschichtlicher Boden und mit der Bundesgründung verknüpft (22).

Abbildung 2: Titelseite von Wilhelm Oechsli: Die Anfänge der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1891

OECHSLI, W

Das Datum der Gründung der Schwyzer Eidgenossenschaft

Im 19. Jahrhundert hat sich eine historische Festkultur entwickelt – auch in der Schweiz. Bedeutsame Jahrzahlen wurden mit Festen gefeiert und dabei oft Denkmäler enthüllt.

1891 war der heutige Bundesstaat 43 Jahre alt. Mit großem Aufwand wurde das angeblich 600-jährige Jubiläum der Gründung der Schweizer Eidgenossenschaft gefeiert.

Der Historiker Wilhelm Oechsli bekam vom Bundesrat den Auftrag, für den Anlaß ein Buch zu schreiben.

Der Inhalt ist nicht sehr erhebend. Das Werk gibt nur Altbekanntes wieder.

Einen Wert hat jedoch das Titelbild des Jubiläumsbuches. Es zeigt, wie damals alte Geschichte in Szene gesetzt wurde.

Der Titel des Buches spricht den ersten ewigen Bund der Eidgenossen vom „1. August 1291“ an.

1891 war eine Feier für ein pseudohistorisches Ereignis, aber gleichzeitig auch das Stiftungsjahr für den heutigen Schweizer Nationalfeiertag.

Die Zentenarfeier von 1891 markiert eine historiographische Wende in der Schweiz, nämlich die Rückverlegung des Gründungsjahres der Eidgenossenschaft. Bis dahin galt 1307 als Ursprungsdatum. - Noch auf dem bekannten Tell-Denkmal von Altdorf ist diese Jahrzahl eingemeißelt.

Wie kam es zu der Rückverlegung? – „Um 1760“ – eher gegen Ende des Jahrhunderts - wurde in Basel der Bundesbrief von 1291 entdeckt und herausgegeben. Aber damals waren die großen Chronik-Werke schon geschrieben. Und diese kannten nur das Gründungsdatum 1307 und einen Bundesbrief von 1315.

Der Bundesbrief von 1291 ist eine späte Urkundenfälschung oder Urkundenschöpfung. Aber im Laufe von mehr als einem Jahrhundert erhielt dieses Dokument einen Nimbus, der noch heute anhält.

Bei der Diskussion um 1291 oder 1307 vergaßen die neueren Historiker ein wesentliches Element: Die ältesten Chroniken nennen nicht 1307, sondern 1314 als Ursprung des Schwyzer Schwurbundes (vgl. dazu: Pfister: Die Entstehung der Jahrzahl 1291). – Was soll man von einer Geschichtswissenschaft halten, welche Inhalte und Daten nach Belieben ändert?

Es war übrigens der Freiburger Historiker Alexandre Daguet, welcher ab etwa 1860 als erster das Gründungsdatum 1291 verfocht (Vgl. Pfister: Beiträge zur Freiburger Historiographie, Die Entstehung der Jahrzahl 1291).

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Grosjean war ein gewissenhafter Forscher. Also erkennt der kritische Leser die Schwachstellen der Argumentation: Die ganze Geschichte der Bundesgründung ruht auf den wenigen Seiten des Weißen Buches. Aber dieses nennt keine Jahrzahlen und erwähnt die Schlacht bei Morgarten nicht.

Deutlich wird auch, daß die ältere Chronistik den angeblichen Bundesbrief von 1291 nicht kennt.

Auch der Ort der sagenhaften Schlacht am Morgarten ist umstritten. Die Vorstellung, daß die Schwyzer bei jenem Kampf Lawinen von Felsblöcken und Baumstämmen auf den Gegner hinuntergewälzt hätten, bezeichnet Grosjean sogar als naiv.

Die Broschüre über die Gründung der Waldstätte läßt den Widerspruch erkennen, den keine wissenschaftliche Bemühung beseitigen kann: Die Bundesgründung wird als eine Legende angesehen, soll aber nichtsdestoweniger einen wahren Hintergrund haben.

Das Heft ist wie die anderen Titel jener beiden Reihen mehrenteils ein Bilderbuch: 32 schöne Schwarzweiß-Fotos stellen Landschaften rund um den Vierwaldstättersee dar, bilden Burgruinen wie die Schwanau, den Meierturm in Silenen, die Zwing Uri, die Gesslerburg und Alt Habsburg ab, zeigen Tell-Darstellungen, eine Ansicht des Bundesbriefarchivs in Schwyz, eine Musterseite aus dem Weißen Buch und eine Illustration aus der Spiezer Chronik von Diebold Schilling.

1965 war die Auffassung von der Bundesgründung der Schwyzer noch unwidersprochen. Aber schon wenige Jahre später wurde die erste Kritik laut.

Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft

Als ich die Vorarbeiten für dieses Buch begann und Literatur sammelte, erinnerte ich mich an ein Buch, das ich um 1970 gelesen hatte und genau mein Thema war, nämlich eine kritische Auseinandersetzung mit der älteren Geschichte der Eidgenossen. – Unter Umständen könnte mir jenes Werk viel Arbeit abnehmen, stellte ich mir vor.

Bald hatte ich das Buch gefunden. Es stammt von Otto Marchi und ist betitelt mit Schweizer Geschichte für Ketzer oder die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft.

Wie ich aber wieder darin las, erkannte ich bald, daß dieses Werk schon ziemlich Staub angesetzt hatte und nur bedingt nützlich war.

Marchi schrieb sein Buch 1968. In den beiden folgenden Jahren erschien es als Zeitungsserie und wurde darauf für die Erscheinung 1971 in die vorliegende Form umgeschrieben. Die ursprünglich journalistische Abfassung des Werkes erkennt man deutlich am Stil des Inhalts und an Kapitelbezeichnungen wie: Die sagenhafte Apfelschützen GmbH, Die pränatalen Gründerjahre, Die Pensionierung der Bösewichte und Rütli – Rebellion der Sennen?

Die Schweizer Geschichte für Ketzer ist reich, aber chaotisch illustriert – und auch das textliche Layout ist der Lesefreude nicht angetan. - Um das Gewicht des Werkes zu erhöhen, wurde der Zürcher Geschichtsprofessor Marcel Beck um ein Vorwort gebeten – und die bekannten Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel und Kurt Marti schrieben je einen Text als Anhang.

Bei der erneuten Lektüre hatte ich Mühe, die Grundidee des Buches herauszufinden. Gewiß, es geht um eine Entmystifizierung der aufgebauschten und heroisierten Geschichte der frühen Schwyzer Eidgenossenschaft.

Endlich nach über hundert Seiten erklärt Marchi sein Anliegen, durch die Widerlegung der historischen Existenz Wilhelm Tells Sage und Geschichte auch in der Befreiungsgeschichte exakt zu trennen (Marchi, 124).

Erst jetzt erfährt der Leser, daß der Autor nicht die Entstehungsgeschichte der Schwyzer Eidgenossen als solche entlarven will, sondern nur deren märchenhafte Ausschmückung.

Die Tell-Geschichte zum Beispiel sei geschaffen worden, um Herausforderungen einer späteren Zeit zu begründen. Dies sei aber heute nicht mehr nötig. Die heutige Schweizer Schule habe den jungen Staatsbürgern statt unreflektierter Abziehbildchen ein kritisches Geschichtsverständnis beizubringen (Marchi, 124).

Das sind kluge und große Worte von Otto Marchi. Aber der Autor beläßt es mit allgemeinen Deklamationen. Wie ein kritisches Geschichtsbild der Schweiz beschaffen sein müßte, bleibt unklar.

Und mit der Forderung, in der Geschichte Dichtung und Wahrheit zu trennen, zeigt sich Marchi nicht als Einzelner, sondern als einer unter vielen. Diese Absichtserklärung haben andere Historiker abgegeben. Sogar der berühmte Karl Meyer bekannte sich dazu. Aber daraus leitete letzterer den Schluß ab, daß die ganze Befreiungsgeschichte der Waldstätte authentisch und Wilhelm Tell eine historische Person sei.

Je weiter man das Buch liest, desto deutlicher merkt man, daß Marchi eine theoretische und methodische Grundlage fehlt. Er möchte die glorifizierte Schwyzer Geschichte auf ein Normalmaß zurückführen, nicht abschaffen. Der Autor betrachtet die einheimische Geschichte kritisch, aber er greift kritiklos auf die allgemeine Geschichte zurück. Die kaiserlosen, die schrecklichen Jahre von „1250 bis 1273“ sind für ihn unreflektierte Wirklichkeit, so gut wie Rudolf von Habsburg und Kaiser Albrecht I.

Dabei enthält das Werk auch brauchbare Ansätze einer neuen Geschichtsbetrachtung. Dank seiner kritischen Haltung erkennt Marchi zum Beispiel Parallelitäten oder Präfigurationen, wie er sie nennt, und bringt sogar etwas Geschichtsanalyse.

Über die Motive zur Erfindung der Gründungssage wird zum Beispiel gesagt: Das Recht auf eine eigenständige Entwicklung wird damals noch durch eine Anknüpfung an irgendwelche möglichst berühmte Präfigurationen aus der Vergangenheit bewiesen, von denen die eigenen Einrichtungen hergeleitet und damit auch gerechtfertigt werden (Marchi, 39). - Der Stil der Aussage ist allzu historisch, aber der Kern stimmt.

Im Laufe seiner Darlegungen bringt Marchi auch konkrete Beispiele für Präfigurationen oder Parallelitäten. So erwähnt der Autor, daß Doktor Eck, der Anwalt der katholischen Kirche an der Badener Disputation von „1526“, mit dem Riesen Ecke in der Dietrichssage, in dem eidgenössischen Laupenlied und in Niklaus Manuels Gedicht Des Baders und Eggers Badenfahrt zu vergleichen sei. - Nur zieht Marchi nicht die Folgerung, daß die erwähnten Ereignisse und Personen erfunden sein müssen.

Die Schweizer Geschichte für Ketzer ist nicht so ketzerisch wie sie behauptet. Deshalb konnte diese Geschichtskritik nicht greifen und ist schon vergessen.

Der Autor des Werkes verließ danach die Historie und wurde Romanschriftsteller.

Otto Marchi ist im Dezember 2004 bei der Flutkatastrophe in Südasien ums Leben gekommen.

Das Bundesbriefmuseum in Schwyz

Ich hatte dieses Museum vorher nie besucht. Mir fehlte das Motiv, jenen Ort aufzusuchen. Gemeint ist das Bundesbriefarchiv in Schwyz, das seit 1998, nach einem Umbau und einer Neukonzeption Bundesbriefmuseum heißt.

Als ich das erste Mal dort eintrat, war meine Spannung groß. Bei den Vorarbeiten zu diesem Buch war jenes Museum für mich interessant geworden.

Dabei gibt es in diesem Archiv oder Museum wenig zu sehen. - In der Eingangshalle werden verschiedene Dinge der Waldstätte und der Landschaft Schwyz vorgestellt und erklärt. Dann geht es über einen breiten Treppenaufgang hinauf in einen großen Saal, in welchem die Weihegegenstände der Schwyzer Eidgenossenschaft ausgestellt sind: verschiedene Banner und einige Urkunden, allen voran natürlich der Bundesbrief vom „August 1291“ die wichtigste nationale Profanreliquie (Entstehung, Sablonier: Bundesbrief, 132).

Auch Dokumente des patriotischen Bewußtseins des 19. Jahrhunderts werden gezeigt. Man erfährt, daß erst mit der 600-Jahr-Feier der Bundesgründung 1891 der Bundesbrief mit dem Datum 1291 jene überragende Bedeutung im allgemeinen Bewußtsein und in der historischen Betrachtung gewann.

Und niemals vergessen sollte man den Anlaß zum Bau dieses Archivs oder Museums. Die Idee wurde anfangs der 1930er Jahre entwickelt und ausgeführt. 1936 weihte man diese nationale Gedenkstätte mit ziemlichem Pomp ein.

Seine größte Bedeutung erlebte das Bundesbriefarchiv kurz darauf im Jahre 1941, als die Schweizer Eidgenossenschaft vor einer existentiellen Bedrohung wegen der vollständigen Umklammerung durch die Achsenmächte stand.

Die Feierlichkeiten zum 650-Jahr-Jubiläum bedeuteten den Höhepunkt der Bundesbrief-Verehrung.

Der damals auch in der Bundesregierung einflußreiche Historiker Karl Meyer, ein bewußt handelnder staatlicher Propagandapublizist, ein selbsternannter Chefideologe (Entstehung, Sablonier: Bundesbriefmuseum, 174) holte dafür sogar Wilhelm Tell als angeblich historische Figur zurück.

Unterdessen sind viele Jahrzehnte vergangen und der Zeitgeist hat sich gewandelt. Das Bundesbriefarchiv bekam einen neuen Namen und eine neue Konzeption. Die heutige Präsentation und die Erklärungen auf den Tafeln erstaunen durch eine verblüffende Offenheit und Aufgeschlossenheit. Unumwunden wird erklärt, daß das traditionelle Bild von der Entstehung der Eidgenossenschaft falsch und Gemeinplätze wie der Burgenbruch der Waldstätte historisch nicht zu belegen seien.

Das Bundesbrief-Museum in seiner heutigen Konzeption will die monumentale Aufbauschung der mittelalterlichen Frühgeschichte unseres Landes (Marchal: Bundesbriefarchiv, 158) korrigieren und zur historischen Selbstbescheidung anleiten, hat man den Eindruck. Aber reicht das aus oder ist das der richtige Weg?

Die Betreiber haben sich Mühe gegeben, ein aggiornamento des Archivs zu versuchen. – Doch die Frage der Fragen wird nicht beantwortet: Wie steht es um die Echtheit der Urkunden?

Als Fazit habe ich den Eindruck, als sei die Neugestaltung auf halbem Wege stehengeblieben. Man müßte mehr tun.

Schon im Garten des Museums gäbe es etwas aufzuräumen. Dort steht noch immer ein unpassendes, überdimensioniertes Kriegerdenkmal von 1939: ein Bronzesoldat in pathetischer Pose, mit Nagelschuhen und Gamaschen (Pfister: Historische Denkmäler in der Schweiz). Die Figur stört nicht nur den Ausblick auf die Mythenstöcke hinter Schwyz, sondern tötet jede Besinnung und weckt dafür Ärger und Aggression. – Doch zur Wegschaffung dieses unzeitgemäß gewordenen Monumentes konnte man sich offenbar bisher nicht durchringen.

Die Stiftsbibliothek Sankt Gallen

Sankt Gallen bezieht seinen historischen Ruhm von dem ehemaligen Kloster, richtiger der Fürstabtei Sankt Gallen. Diese wurde 1805 aufgehoben. Aber die barocke Anlage am Rande der Altstadt besteht noch immer.

Berühmt ist in diesem ehemaligen Stift der Lesesaal im Stil des Barocks oder Rokoko, etwa in den späten 1780er Jahren errichtet.

Und vor allem wird der Reichtum der Bibliothek gepriesen: etwa 15’000 alte Bücher und 2000 Handschriften bilden einen Schatz, der nach außen strahlt.

Kein Wunder, daß Sankt Gallen 1983 in die angesehene Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurde.

Für die Vermarktung der ostschweizerischen Stadt mag dieses Etikett gut sein. Doch wir suchen die historische Wahrheit. Also erlauben wir uns einige Fragen zu stellen.

Es gab sicher ein Kloster Sankt Gallen, wenngleich die Stadt die Reformation mitmachte. Fortan bildete das religiöse Zentrum eine fürstliche Abtei der alten Eidgenossenschaft. In diesen Zeiten entstanden die heutige Stiftskirche, die Stiftsbibliothek und die übrigen Gebäude.

Aber die Abtei gab sich nicht mit ihrer bloßen Existenz zufrieden. Mit großem Aufwand stellte sie eine monumentale Geschichtslegende her von einem blühenden Kloster, das 1000 Jahre vorher entstanden sei.

Die Abtei sammelte vor allem einen eindrucksvollen Stock Handschriften, die aus der ganzen Zeit des „Mittelalters“ stammen sollen.

Die gewaltige Geschichtslüge von einem reichen Kloster Sankt Gallen und kostbaren Handschriften in altersgrauen Zeiten wird noch heute geglaubt und staatlich gepflegt.

Die Stiftsbibliothek Sankt Gallen ist zu einer Propagandastätte für das angebliche christliche Mittelalter geworden.

Danach lägen die Ursprünge des Klosters Sankt Gallen in einer nebulösen „frühmittelalterlichen“ Zeit. Es gab damals kaum schriftliche Aufzeichnungen, und die Kultur muß gegenüber der Römerzeit auf ein jämmerliches Niveau gesunken sein.

Das Handbuch der Schweizer Geschichte weiß nichtsdestoweniger erstaunlich viel über jene Anfänge zu berichten:

720 gründete der alemannische, aber in Rätien am Bischofshof erzogene Priester Otmar an der Grabstätte des Gallus, wo sich ja schon immer eine kleine Einsiedelei befunden hatte, das Kloster St. Gallen. In der Folge unterstellte er es der Benediktinerregel. Den Auftrag zur Gründung gab ihm der Tribunus Waltram von Arbon, der Grundherr der Gegend. Unterstützt wurde er aber auch vom Präses Viktor und den alemannischen Herzögen (Handbuch, I, 119).

Der pseudohistorische Nonsens dieser Zeilen ist nicht zu überbieten.

Aus der Einsiedelei und dem Kloster soll im Laufe der Zeit eine reiche und mächtige Abtei entstanden sein.

Auch hier weiß das Handbuch sehr viel mit vielen Einzelheiten:

Dank der Schenkungen, die seit dem Ausgang des 8. Jahrhunderts rasch zunahmen, und um die Mitte des 9. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten, wurde St. Gallen zu einem der reichen karolingischen Königsklöster. So entstand ein in unzählige kleine und kleinste Einzelstücke aufgesplitterter Großgrundbesitz, nicht etwa ein zusammenhängendes Gebiet, das im Großbetrieb hätte bebaut werden können. Zu Beginn des 10. Jahrhunderts dürften es schätzungsweise 4000 Hufen oder 16000 Jucharten gewesen sein, die sich im Raum zwischen Limmat, Aare und Donau, d.h. in ganz Alemannien verteilten (Handbuch, I, 133).

Es ist schwer zu glauben, daß eine solche hirnrissige Pseudogeschichte noch heute geglaubt und geschrieben wird.

Die gefälschten Urkunden stellen tatsächlich den Grundbesitz des karolingischen Sankt Gallens als riesigen Splitterbesitz dar, der sich sogar auf einem großräumigen Kartenausschnitt kaum ganz darstellen läßt.

Aber was soll ein solcher Streubesitz in einer unendlich fernen Zeit, als Europa angeblich politisch und wirtschaftlich am Boden lag, als es weder Münzen, noch Fernstraßen, noch eine entwickelte Kultur gab und die an sich schon armen Landschaften von fremden Kriegsscharen geplündert und verheert wurden?

Offenbar standen den Verwaltern zur Inspektion ihrer Güter geländegängige Autos mit Allradantrieb zur Verfügung. - Und die Zinszahlungen der Untertanen an das Kloster besorgte wohl die Raiffeisenbank oder der Credit Suisse.

Im Laufe des 18. Jahrhundert blühte das Kloster und danach die Fürstabtei Sankt Gallen auf. – Doch der riesige Grundbesitz achthundert Jahre vorher scheint sich verflüchtigt zu haben, als hätte er nie existiert.

Die Geschichte des Klosters Sankt Gallen nach dem Jahr „1000 AD“ liest sich als ein achthundertjähriger Abstieg, wie auch der Blick auf die Handschriftensammlung des Stifts zeigt.

Die Wissenschaft behauptet hier, fast alle diese Handschriften stammten aus der Zeit bis zum Ende des Mittelalters, also bis zum „16. Jahrhundert“.

Ein Fünftel der Manuskripte soll sogar aus der Zeit vor dem Jahr „1000 AD“ stammen.

Was soll das? Hat denn das Kloster Sankt Gallen in der Neuzeit überhaupt nichts mehr Handschriftliches hervorgebracht? War die Abtei bis zu ihrer Aufhebung nur mehr von einfältigen Mönchen und geistig beschränkten Äbten bewohnt?

Man kann die Absurdität der pseudohistorischen Behauptungen auch vom Bau her aufrollen: Da hat man im letzten Fünftel des 18. Jahrhunderts eine Bibliothek für Handschriften gebaut, die schon viele Jahrhunderte, teilweise schon vor tausend Jahren existiert hätten. – Glaubt jemand an eine tausendjährige Aufbewahrungszeit von empfindlichen Manuskripten?

Über tausend Jahre hätte man in einem legendären Kloster in der Ostschweiz die gleichen Handschriften der Bibel, der Kirchenväter und ausgewählter klassischer Autoren hergestellt, gesammelt und gelesen.

Dabei scheute man in dieser angeblich bettelarmen Zeit keine Mühe und keine Kosten. Gewisse illuminierte Manuskripte müssen ein Vermögen gekostet haben – abgesehen von der Kunstfertigkeit und dem Arbeitsaufwand.

Eine verquere Chronologie und ein absurdes Geschichtsbild führten zu dieser schrägen Optik.

Jeder, der mit etwas kritischem Verstand die Sankt Galler Handschriften betrachtet, wird die falschen Zuschreibungen und Datierungen entlarven.

Auch in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen wird nur mit Wasser gekocht. Alle dortigen Handschriften stammen demzufolge aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. – Die „Karolingerzeit“ und das übrige „Mittelalter“ ist eine Erfindung der Renaissance und des Barocks.

Die Kuratoren und Wissenschaftler, die noch heute das Märchen von der karolingischen Blüte eines Klosters Sankt Gallen verbreiten, blenden die einfachsten kritischen Überlegungen aus.

Bei Sankt Gallen, dem Kloster und der Stiftsbibliothek mit ihren Handschriften, fragt man sich einmal mehr: Weshalb muß denn alles so alt, wenn möglich „uralt“ sein? Kann man sich nicht auch an Dingen freuen, die höchstens ein paar Jahrhunderte alt sind?

Hie Schweizerland, hie Bern! - Die Geschichte Berns von Richard Feller

Als Mittelschüler war dies meine erste große historische Lektüre: die monumentale Geschichte Berns von Richard Feller.

Der erste Band - der literarisch am meisten beeindruckt - erschien 1946, behandelt die Geschichte der Stadt von den Anfängen „im 13. Jahrhundert“ bis „1516“ und ist 600 Seiten stark. Der zweite Band mit noch mehr Seiten geht bis 1653, also bis zum Bauernkrieg. - Bis 1798 folgen nochmals zwei Bände, wobei der letzte und dickste nur mehr die Jahre 1790 bis 1798 abdeckt. – Alles in allem eine gewaltige Leistung jenes 1958 verstorbenen Berner Professors.

Fellers Werk ist das große Epos von den wechselvollen Schicksalen des mächtigsten Stadtstaates diesseits der Alpen, seinem Aufstieg, seiner Blüte und seinem Untergang (Feller/Bonjour, II, 759).

Man ist gespannt zu erfahren, wie Bern dieses staunenswerte politische Ergebnis fertiggebracht hat. Und Feller in seiner nüchtern-disziplinierten, aber manchmal auch pathetischen Sprache gibt dem Leser eine Antwort:

In tiefer Not verstrickt, gab dieses Geschlecht den nachfolgenden das Beispiel der Selbstüberwindung; der Gemeinsinn siegte über die Leidenschaft. Das ist das Außerordentliche, das Bern durch Jahrhunderte Frucht trug und bereits andeutete, daß in Bern die politische Begabung die anderen Fähigkeiten überragte (Feller, I, 68).

Die scheinbar geniale Einsicht Fellers in die Geheimnisse des staunenswerten Aufstiegs von Bern ist jedoch weit weniger aufsehenerregend, wenn man sie mit der chronikalischen Quelle dieser Aussage vergleicht.

Valerius Anshelm nämlich schrieb am Anfang seines Werkes, er wolle darstellen, daß eine so löbliche, mächtige Stadt Bern durch semliche tugendsame Regierung angefangen, zugenommen, erhalten und so hoch gebracht (Anshelm, I, 8).

Nicht nur die außerordentliche politische Begabung sei es nach Feller gewesen, die Bern groß gemacht habe, sondern auch eine geradezu phantastische divinatorische Begabung seiner Führungsschicht:

In Bern stieg aus dem Dunkel der Frühe ein Wille auf, der die Umstände mit einer Sicherheit erfaßt, als ob er seine Absichten schon durch Jahrhunderte erblickte (Feller, I, 9).

Bern muß wirklich eine politische Sonderbegabung ersten Ranges gewesen sein. Feller nährt mit seiner Diktion und seiner Darstellung diese Meinung. Nach ihm bekommt man den Eindruck, daß diese Stadt eine Art historisch-politisches Utopia gewesen sei, ein Land Kanaan, wo Milch und Honig fließt:

Das Jahr 1420 war wundersam fruchtbar; die Natur spendete so verschwenderisch, daß man schon Ende August mit der Weinlese begann. Wein und Korn wurden so billig, als sich kein Mensch besinnen konnte. Der Wohlstand nahm zu, das Handwerk hatte goldenen Boden, seine Gesellschaften erwarben eigene Häuser und schmückten sie mit schönem Gerät (Feller, I, 258).

Wäre hier nicht eine Jahrzahl drin, so würde man meinen, das sei eine freie Übersetzung von Ovids Gedicht über das goldene Zeitalter.

Wahrhaftig, in Bern war alles im Überfluß vorhanden. Mißernten, Teuerung und Pest machten vor den Stadttoren halt. Da begreift man, weshalb diese gottbegnadete Stadt ringsherum für jeweils Tausende von Goldgulden Städte und Landschaften zusammenkaufen und dennoch einen Staatsschatz äufnen konnte, dessen Größe sich im späten 18. Jahrhundert in ganz Europa herumsprach.

Aber bleiben wir nüchtern und fragen uns, woher Feller die Inspiration holte, um ein solch unwirklich-verklärtes Geschichtsbild einer Stadt Bern in alten Zeiten zu malen. Die kritischen Einwände kamen mir erst mit der Geschichtsanalyse. Vorher war ich Jahrzehnte von Fellers Darstellung voreingenommen und blind gegen Einwände.

Dabei hätte ich schon vor einigen Jahrzehnten auf das Geheimnis von dessen selbstsicherem Urteil kommen können. An einer Tagung sprach ich einmal einen Professor an, der selbst bei Feller studiert hatte. Dieser Mann teilte meine Begeisterung für den Autor der Geschichte Berns keineswegs. Der Hochschullehrer sagte, daß Feller in seinen Seminaren überhaupt keine Quellenkritik betrieben habe. Die alten Zeugnisse wurden gelesen und kommentiert, nicht mehr.

Erst heute habe ich diese Bemerkungen begriffen und ergründe das Geheimnis dieses historiographischen Monuments über Bern.

Feller kann deshalb so selbstsicher die Geschichte der Stadt darstellen und deren Entfaltung als Werk der göttlichen Vorsehung hinstellen, weil er getreu die chronikalischen Quellen wiedergibt. Für die ältere Zeit bis nach der Reformation sind das Justinger und
Anshelm.

Hat man die letzteren Chronisten analysiert, so versteht man auch Feller. Die Theodizee, die göttliche Bestimmung im menschlichen Handeln, welche der Geschichtsschreiber des 20. Jahrhunderts bringt, folgt teilweise wörtlich derjenigen der genannten alten Historiographen.

Weil Feller unkritisch die alten Chronisten wiedergibt, fallen ihm auch die gröbsten Widersprüche in seiner Darstellung nicht auf. Er stellt keine Fragen, weshalb Bern „in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ das Städtchen Aarberg insgesamt dreimal gekauft hat.

Feller erkennt auch die anderen Merkwürdigkeiten in Berns Expansionspolitik nicht. So wird nicht hinterfragt, warum die Stadt häufig ein fremdes Städtchen kriegerisch einnimmt, um es nachher rechtmäßig durch Kauf zu erwerben – geschehen etwa mit Burgdorf.

Auch sucht man bei Feller vergeblich nach einer Antwort, weshalb Berns Westpolitik, also die Beherrschung der Waadt, während drei Jahrhunderten erfolglos war.

Noch gröbere Widersprüche treten hervor, wenn Feller die Bildung und das Latein in der Stadt behandelt. Getreu seiner fixen Meinung, daß hier die Außenpolitik den Vorrang über den Kommerz und die Bildung hatte, zeichnet dieser Historiker ein abstruses Bild der Bildungsverhältnisse im älteren Bern. Zwar hätte es schon „ab dem 14. Jahrhundert“ in der Stadt eine Lateinschule gegeben, aber diese sei nur auf die praktischen Bedürfnisse, also besonders die Kanzlei ausgerichtet gewesen:

Zumeist erreichten geistige Bewegungen anderer Länder den Berner nicht. … Die geistige Speise blieb durch Jahrzehnte unerfrischt. … Berns Durchgang durch das Latein war dürftig, weil man nicht nach dem Geist trachtete, den das Latein erschloß … Mit dem Latein versagte sich Bern den gangbarsten Weg zur geistigen Welt. ... Die geistige Ausstattung darbte, weil die Kopfarbeit in Bern gering geachtet war (Feller, II, 57 f.).

Die Idealstadt Bern war also eine geistige Wüste. Da verwundert, daß der Ort so bedeutsam wurde, obwohl er doch von Spießern beherrscht wurde. Und man kann kaum begreifen, daß Bern neben Zürich so unglaublich schnell die Reformation übernommen hat, obwohl nach Feller fremde geistige Einflüsse nicht durch die Stadttore eingelassen wurden.

Manchmal muß man sich in Fellers Darstellung sogar wundern, was er überhaupt meint:

Die Verehrung der Ahnen bestimmte das Antlitz der Vergangenheit. Der Berner übte unbewußt die Fähigkeit, in die Vergessenheit zu verstoßen, was ihr Andenken trübte (Feller, II, 64).

War Bern rückwärts gerichtet oder nur traditionsbewußt? Und wie kann man eine kritische Geschichte Berns schreiben, wenn die Altvordern doch bewußt aus ihren Quellen und Darstellungen alles herausgefiltert haben, was das Andenken an die Ahnen trübte?

Schon eine kurze Betrachtung dieser monumentalen Geschichte Berns zeigt, daß wir es bei Feller mit unkritischer Historiographie zu tun haben. Das nüchterne Pathos und die geglättete Darstellung verhüllen nur unzulänglich die Mängel, Widersprüche und Absurditäten in dem Werk. Für die ältere Zeit – und das sind seinen Bänden immerhin die ersten tausendfünfhundert Seiten, folgt Feller nicht nur den ersten Chronisten, er übernimmt auch ihre Tendenzen, ohne es zu merken.

Nur in Einzelheiten gibt es Kritik. So hält Feller dafür, daß die goldene Handfeste Berns in ihrer heutigen Gestalt erst etwa „um 1300“ entstanden sei. – Und an einer anderen Stelle verneint er die Überlieferung, daß die Stadt „1271“ gegen die Habsburger eine Niederlage eingefangen habe, weil dies seiner Meinung nach den Urkunden widerspreche.

Richard Feller hat es noch gewagt, die ältere Geschichte Berns darzustellen.

Nach der Mitte des 20. Jahrhunderts schrieben nicht mehr Einzelne Geschichte. Die Geschichtsbücher kamen als Sammelwerke von verschiedenen Autoren heraus.

Berns mutige, große, mächtige und goldene Zeit oder der Bankrott der Berner Geschichtsforschung

Berns Geschichte ist gut erschlossen und wird fast regelmäßig neu geschrieben.

Nach Richard Fellers großem Werk erschien 1971 ein kurzer Abriß über die Vergangenheit der Stadt und des Kantons von Hans Strahm.

Und zu Beginn der 1980er Jahre kam die vierbändige Illustrierte Enzyklopädie des Kantons Bern heraus, die neben der Geschichte und Kunstgeschichte auch die Geographie und Naturkunde einschloß.

1999 dann erschien in einer neuen Reihe Berner Zeiten ein umfangreiches Werk über die ältere Geschichte Berns: Berns große Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt.

Als ich den 685-seitigen Wälzer in der Hand hielt, stellte ich mir bereits Fragen: Was war an diesem „15. Jahrhundert“ so groß? Und wie schafft man es, über diese doch sehr entfernte Zeit so viel zu schreiben?

Nun, die „große Zeit“ bezieht sich auf die „Burgunderkriege“. – In diesem gewaltigen Ringen sei Bern zu einer Macht von fast europäischer Bedeutung aufgestiegen. Und alle frühen Chroniken, von „Justinger“ bis „Diebold Schilling“, sind zeitlich um dieses Ereignis herum angesiedelt.

Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis und eine erste Durchsicht zeigt Berns große Zeit als Sammelband. In ihm sind die verschiedensten Autoren mit den verschiedensten Themen vertreten. Eine Geschichte jener Zeit wird nicht geboten. Die Burgunderkriege werden kursorisch abgehandelt; die politische Entwicklung in jenem angeblich großen Jahrhundert kaum skizziert.

Durchgeht man das umfangreiche Werk, so staunt man, was es in diesem Bern in einem sagenhaften 15. Jahrhundert alles gegeben hat. – Die Stadt war also damals keineswegs die geistige und kulturelle Wüste, als welche sie Richard Feller beschrieben hat.

Man erfährt in Berns großer Zeit Dinge, die vorher vollkommen unbekannt waren. Der Untertitel des Werkes lügt also nicht: Die ältere Geschichte der Stadt wird tatsächlich neu entdeckt.

Beispielsweise wird erklärt, weshalb es in Berns angeblichem Mittelalter immer wieder zu Stadtbränden kam. – Man erfährt Details über die Trinkwasserversorgung. - Einzelne Architekten wie Bartholomäus May werden vorgestellt. – Der bernische Schloßbau im 15. Jahrhundert mit Worb und Reichenbach wird monographisch in allen Einzelheiten beschrieben.

Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte als moderne historische Themen werden auf das ältere Bern angewendet. Da erfährt man staunenswerte Einzelheiten. Beispielsweise gibt es ein Kapitel
über Verwaltungsstrukturen und Verwaltungspersonal.              .  
Und eine Graphik zeigt die durchschnittlichen Getreidepreise in Bern „1435 bis 1474“.

Auch die Technikgeschichte wird gestreift: Die Räder-Uhr am Zytglogge-Turm soll ebenfalls aus jenem 15. Jahrhundert stammen.

Sogar Musik soll es in Berns großer Zeit gegeben haben. Jedenfalls werden einige Komponisten mit ihren Tonwerken vorgestellt.

Ausführlich wird der Münsterbau beschrieben. Denn nach „Justinger“ hätte Bern „1421“ mit jenem großen Architekturwerk begonnen.

Beim Durchblättern kommen die ersten Vorbehalte gegen Berns große Zeit: Das Werk ist zu groß, zu unhandlich und lädt trotz reich illustriertem Aussehen nicht zum Lesen ein. Die meisten Beiträge behandeln marginale Themen. Eine Gesamtschau wird nirgends geboten.

Und die zeitliche Abgrenzung jener angeblich großen Zeit Berns gegen die Neuzeit hin ist verschwommen. – Kulturgeschichtlich wird die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, also auch die Epoche der Reformation, dem Thema einverleibt.

Abbildungen aus Berner Bilderchroniken sind reichlich eingestreut. Aber sonst müssen Illustrationen des 17. oder 18. Jahrhunderts die weit zurückliegende Zeit verdeutlichen.

Nicht mehr das Gesamtbild eines Historikers scheint in Berns großer Zeit durch, sondern ein bunt zusammengewürfeltes Spezialistentum.

Die Kunstgeschichte und Mittelalter-Archäologie, dazu die Sozialgeschichte, haben das Zepter übernommen. Sie sollen dem Publikum weis machen, daß man über jene entfernte Zeit bestens Bescheid wisse – und vor allem genau datieren könne.

Beim Erscheinen jenes Werkes über das Bern im angeblichen 15. Jahrhundert stand ich erst am Anfang meiner Geschichts- und Chronologiekritik.

Doch klar war für mich schon damals: So viel über eine so ferne Zeit konnte man unmöglich wissen. Die Herausgeber und Autoren stellen die ganze Sache aber dar, also gäbe es überhaupt keinen Zweifel, weder an den Quellen, noch an den Inhalten – und schon gar nicht an den Zeitstellungen.

Mit Berns großer Zeit war die Sache aber nicht abgeschlossen.

2003 erschien ein Folgeband des neuen historischen Unternehmens: Berns mutige Zeit, welcher das „13. und 14. Jahrhundert“, also die ersten beiden Jahrhunderte nach der sagenhaften Stadtgründung behandelt.

Schon als ich die Vorankündigung und den Titel hörte, hatte ich dunkle Vorahnungen: Wenn schon Berns große Zeit ein zweifelhaftes Unternehmen darstellte, dann mußte es Berns mutige Zeit erst recht sein.

Als ich das Buch bekam und drin zu blättern begann, war ich wie erschlagen. Hier wird eine Geschichte dargestellt, so als hätte es sie wirklich gegeben. – Im gleichen Jahr, in welchem ich endgültig nachwies, daß es die alten Eidgenossen und das mittelalterliche Bern nicht gegeben hatte, erscheint ein Werk, das offenbar von nichts wußte.

Berns große Zeit ist ein anspruchsvoller Titel für eine zweifelhafte Epoche; und Berns mutige Zeit eine Anmaßung: Da hätte es also in einem weit entfernten Zeitalter, vor achthundert Jahren, in der Aare- Schlaufe große und mutige Leute gegeben. Diese hätten es gewagt, allen Widrigkeiten zum Trotz eine neue Stadt zu gründen, die sie Bern nannten.

Wo sind denn die Helden jener Stadt geblieben? Gibt es heute nur noch Duckmäuser, Anpasser, Opportunisten?

Eine Durchsicht von Berns mutige Zeit läßt den Kopf schütteln. Eine Riege von Dutzenden von Fachleuten schreibt über eine Nicht-Zeit und einen Nicht-Ort ein dickes Buch, ohne sich die geringsten Gedanken über die Plausibilität des Gegenstandes zu machen.

Mit seinen fast 600 Seiten ist das Buch wie der Vorgängerband unförmig dick, überreich illustriert, dabei ein Sammelsurium verschiedenster bedeutungsvoller und bedeutungsloser Themen, ohne einen rechten Zusammenhang. - Von den Grafen von Neu-Kyburg über die Genfer und Zurzacher Messen bis hin zu Berner Kachel-Öfen ist alles vertreten.

Verschiedene Autoren erörtern die Entstehung Berns, wobei sogar archäobotanische (!) Argumente für das Gründungsdatum „1191“ vorgebracht werden und „präurbane“ (nicht pränatale!) Siedlungen im Stadtgebiet vermutet werden.

Weil für das „13. und 14. Jahrhundert“ keine erzählenden Quellen vorliegen, muß einmal mehr „Justinger“ in den Himmel gelobt werden. Von dessen doch reichlich dürren und inkohärenten Chronik wird behauptet, sie stütze sich auf Quellen, sei kritisch und biete eine plastische Darstellung. – Haben die Autoren, die das geschrieben haben, den Justinger überhaupt gelesen?

Die wichtigsten pseudogeschichtlichen Ereignisse jener angeblichen Zeit werden kaum behandelt. Der Laupenkrieg wird nur in anderen Zusammenhängen erwähnt. - Die Schlacht von Jammertal fehlt völlig.

Dafür aber wissen die heutigen Berner Historiker besser Bescheid als die alten Chronisten: Justinger habe sich an einer Stelle verschrieben, wird gesagt: Es sollte heißen „1271“, statt „1241“. – Die Besserwisserei der modernen „Fachleute“ ist unerträglich.

Auch sonst staunt man, wieviel Wissen über Berns sagenhafte Zeit angeblich existiert. Schon „1394“ notierte man zum Beispiel genau, wer in der Stadt wieviel Steuern bezahlte und in welcher Gasse er wohnte.

Man wird fast erschlagen von dem Haufen historischer Trivia, die hier ausgebreitet werden.

Was sollen acht Seiten über die Glasfenster in der Kirche von Königsfelden im Aargau? – Will man etwa glaubhaft machen, die alte Technologie hätte schon vor 700 Jahren Fensterglas herzustellen vermocht?

Und was soll die Nennung der Ordensburg Marienburg bei Danzig samt Bild – sicher ein Bau des frühen 18. Jahrhunderts – in diesem Werk? – Aber korrekt wird dieser Ort mit dem heutigen polnischen Namen Malbork wiedergegeben.

Wie schon in Berns großer Zeit hat auch in Berns mutiger Zeit die Kunstgeschichte und die Mittelalter-Archäologie die Beweisführung übernommen.

Bezeichnenderweise ist der zweite Artikel nach dem Vorwort eine Betrachtung über Gotik in Bern. – Was man damit bezweckt, wird bald klar: Die Architekturgeschichte liefert zu ihren Bauwerken exakte Daten. Damit hofft man, die absurde Konstruktion eines „spätmittelalterlichen“ Berns chronologisch zu stützen.

Nach den Autoren hat zum Beispiel die Französische Kirche in Bern schon „1300“ gestanden – weit über vierhundert Jahre, bevor jener Bau zeitlich glaubwürdig ist!

Man staunt, wie viele uralte Kunstwerke es im Kanton Bern gibt.

Die Wandmalereien in der Kirche von Aeschi bei Spiez sollen „im 1. Viertel des 14. Jahrhunderts“ entstanden sein. – Und im Schloß Köniz soll es Balken geben, die aus der Zeit „um 1260“ stammen.

Bedenkenlos werden auch Kunstgegenstände, die eindeutig nicht in einen „mittelalterlichen“ Zusammenhang gehören vereinnahmt, um zu belegen was nicht zu belegen ist.

Unerhört ist etwa die Wiedergabe des Fragments eines jüdischen Grabsteins. – Dieser wurde vor hundert Jahren an der Kochergasse am Ort des ehemaligen Juden-Friedhofs gefunden. Das Dekor und die Schrift verweisen diesen Überrest in das 19. Jahrhundert.

In Berns große Zeit aber dient das Fragment dazu, Juden und hebräische Sprache in einem Bern „in der Mitte des 13. Jahrhunderts“ zu beweisen.

Der Archäologie-Exzesse greifen zuletzt ins Lächerliche: Was sollen die Ausgrabungen über Holzhütten und einen Wohnturm in Court-Mévilier im Berner Jura aussagen? - Oder archäomedizinische (!) Untersuchungen an Skeletten von einem alten Klosterfriedhof auf der Sankt Petersinsel im Bielersee?

Die Einleitung des Werkes über Berns mutige Zeit ist in einem abgrundtief schlechten Deutsch geschrieben. – Und im ganzen Buch gibt es ärgerliche Druckfehler. – Ein Lektorat scheint es nicht gegeben zu haben. Man merkt die Hast: Das Werk mußte auf Teufel-komm-raus zum Jubiläum „2003 – Bern 650 Jahre im Bund der Eidgenossen“ herausgebracht werden.

Das Werk ist wiederum überreich illustriert – und man merkt warum: Wenn man historisch kein mittelalterliches Bern beweisen kann, so sollen das die Bilder tun.

Bis zum Überdruß werden zum Beispiel Bilder aus Diebold Schillings Spiezer Chronik reproduziert. Wohlweislich wird verschwiegen, daß dieses Werk aus viel späterer Zeit stammt.

Ebenfalls allzu häufig werden Aquarelle des Berner Burgenmalers Kauw wiedergegeben. – Auch hier wird nicht die Frage gestellt, wie Bilder aus dem 18. Jahrhundert für eine Zeit gut sein sollen, die damals schon vor über 300 Jahren zu Ende gegangen war.

Selbstverständlich werden viele Urkunden und Seiten aus illuminierten Handschriften reproduziert, dazu Siegel, Münzen und andere Gegenstände. – Aber die Herausgeber wußten nicht oder wollten nicht wissen, daß alle diese Dokumente nicht einmal ein Alter von 250 Jahren erreichen.

Man fragt sich, für wen dieses ärgerliche Werk von Berns angeblich mutiger Zeit zusammengestellt wurde. - Die veraltete Geschichtsauffassung, die darin vertreten wird, taugt höchstens noch für Zentenarfeiern, nicht für eine fortschrittliche Wissenschaft.

Man hat bei diesen Bänden wohl an das Publikum gedacht. Die opulente Bebilderung und der unförmige Umfang sollten etwa aussagen: Seht ihr Leute, die vielen schönen alten Dinge! Soll noch jemand an einem Mittelalter in Bern zweifeln!

Man könnte einwenden, die verantwortlichen Leute der Redaktion und die wichtigsten Mitarbeiter an diesem unqualifizierbaren Sammelwerk hätten nichts von der Geschichtskritik und den fehlenden Quellen gewußt.

Doch je länger man das Buch studiert, desto mehr merkt man, daß sehr wohl viel überlegt wurde. Eine geheime Blaupause läßt sich herausfiltern, die man etwa so umschreiben kann.

Zuerst sollte nirgends auch nur ein Anflug von Kritik an den Inhalten und Datierungen geäußert werden. Alles wird so dargestellt, wie es sich angeblich zugetragen hat, mit samt den Jahrzahlen und Zuschreibungen.

Vor allem sollte geflissentlich verschwiegen werden, daß alle erzählenden Quellen zu Berns angeblicher mittelalterlicher Geschichte aus späteren Zeiten stammen.

Man behalf sich mit Tricks, etwa dem, daß man einmal mehr die Behauptung auftischt, die vier Pergamentseiten der Cronica de Berno seien ein Vorläufer von „Justinger“ aus der „ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ – und nicht der billige lateinische Auszug aus der Entstehungszeit jenes Werkes.

Wenn die erzählenden Quellen nichts hergeben, so werden um so mehr Urkunden, Steuerbücher und einige andere Dokumente ausgequetscht, die angeblich die Existenz einer Schriftlichkeit in einer weit entfernten Nichtzeit an einem Nicht-Ort beweisen.

Wie in Berns großer Zeit, so haben an Berns mutiger Zeit Dutzende von Wissenschaftlern mitgearbeitet. – Aber wenn man den Aufwand betrachtet, so ist der Zweck verfehlt worden. Berns Mittelalter wird nicht bestätigt, sondern widerlegt.

Mit diesen beiden Werken hat die Berner Geschichtswissenschaft ihren Bankrott erklärt. Einem Großaufgebot an Mitteln, an Leuten und Papier steht ein Erklärungsdefizit gegenüber. Auch einem ganzen Harst von willigen Fachleuten ist es nicht gelungen, eine Epoche und einen Ort glaubhaft zu machen, die es nicht gegeben hat.

Die beiden Werke – Berns große Zeit und Berns mutige Zeit - sind, von den Abbildungen und einzelnen Beiträgen abgesehen, unbrauchbar und nicht zitierwürdig.

2006 gesellte sich ein neuer Band zu dem monumentalen Unterfangen der Berner Zeiten: Unter dem Titel Berns mächtige Zeit erschien eine Darstellung über ein angebliches 16. und 17. Jahrhundert bernischer Geschichte und Kultur.

Über diesen Band habe ich bereits ein Jahr vor dem Erscheinen eine Rezension geschrieben. Denn auf Grund der beiden vorherigen Bände konnte man ungefähr erraten, was darinstehen wird und mit welchen Problemen die Herausgeber und Autoren kämpfen werden.

Ich hatte mich nicht getäuscht: Berns mächtige Zeit ist gegenüber den vorherigen beiden Bänden vergleichsweise harmlos. Denn in jenen knapp zwei Jahrhunderten nach der Reformation ist bekanntlich in der Eidgenossenschaft nichts mehr passiert.

Und vor allem hat man schon für die ersten beiden Bände fast alles Pulver verschossen: Der Bau des Münsters war abgehandelt, die Burgen und Schlösser bereits besprochen, sogar die Reformation größtenteils vorbesprochen. – Und für die Bebilderung hatte man schon alle Aquarelle von Kauw und Illustrationen des Spiezer Schillings aufgebraucht.

Die Herausgeber haben die Leere der nachreformatorischen Zeiten bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts offenbar bemerkt. Aber statt das einzugestehen und ein inhaltliches und chronologisch richtiges Bild zu präsentieren, winden sie sich in einem grotesken stilistischen und grammatikalischen Kauderwelsch:

Von „Berns mächtiger Zeit“ zu sprechen, heißt, daß angesichts der Ambivalenz der Kategorie Macht und angesichts der Tatsache, daß Macht nie einfach gegeben ist, sondern permanent behauptet und realisiert werden muß, auch die Brüchigkeit und Prekarität von Machtansprüchen, die Vielschichtigkeit von Machtausübung, der Zwang zur Legitimation von Machtpositionen und die Fragwürdigkeit bernischer Machtentfaltung behandelt werden müssen. (Aus der Vorankündigung des Werkes, 2005)

Berns universitäre Geschichtswissenschaft stellt wirklich eine mächtige Macht dar!

Wie aber soll sich in der Zukunft etwas zum Besseren ändern, wenn weiter ein absurdes Bild einer märchenhaften Heldenzeit Berns propagiert wird?

Die Berner Zeiten ließen sich nicht aufhalten: 2008 erschien Berns goldene Zeit, eine Darstellung des 18. Jahrhunderts.

Jenes Jahrhundert ist in unseren Augen das erste plausible, also sollten wenigstens hier die Sachen im Allgemeinen stimmen. Aber Fehlanzeige: In jenem Jahrhundert ist die Stadt Bern erst entstanden. Die Entwicklung der Stadt ist inhaltlich und chronologisch völlig anders zu begreifen.

Was soll zum Beispiel das Universalgenie Albrecht von Haller? – Hat er wirklich alles selbst geschrieben, was man ihm andichtet?

In Historische Denkmäler in der Schweiz stelle ich dar, daß dieser Berner Geistesheroe eine fiktive Figur ist, von einer ganzen Schreibstube und erst gegen 1800 zusammengestellt.

Die alten Berner Zeiten – damit auch die Geschichte der alten Eidgenossen - sind anders darzustellen als bis anhin geglaubt.

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Zweiter Teil: Quellen, Daten, Kunst, Bauwerke

Die große Geschichtserfindung und ihre Matrix

In der Matrix der alten Geschichte weise ich an einer Fülle von Beispielen nach, daß die ältere Geschichte mit ihren Inhalten und Zeitstellungen erfunden ist. Beweis dafür sind die vielen Parallelitäten, Duplizitäten oder Isomorphismen, die in der älteren Geschichte vorkommen. Alte Geschichte ist eine Abfolge ständiger Wiederholungen.

Die verschiedenen Teile der alten Geschichte erweisen sich bei der Analyse keineswegs als willkürlich geschaffen. Vielmehr treten in ihnen Bausteine, Prinzipien, Elemente hervor, die genau befolgt wurden. Es ist geradezu ein Kennzeichen der älteren Kulturschöpfungen, ob Kunst, Musik oder Literatur, daß diese nach strengen Regeln geschaffen wurden, welche ich die Matrix oder die Blaupause nenne.

Die ältere Geschichte ist erfunden, weil sich darin überall dieselben Elemente finden. – Die Ausformung mag variieren wie bei einem Kaleidoskop, die Struktur bleibt die gleiche.

Die alte Geschichte stellt Literatur dar. So werden die bisherigen Epocheneinteilungen wie „Altertum“, „Mittelalter“ und „Neuzeit“ unbrauchbar und irreführend. – Grundsätzlich kann man die Vergangenheit nur zweiteilen, nämlich in Vorgeschichte und Geschichte. Die erste ist erfunden und kennen wir nicht, die letztere kennen wir.

Irgendwo nach einer gewissen Zeit rückwärts auf der Zeitsäule hört die plausible und datierbare Geschichte auf. - Aber gleichwohl wird noch eine Vergangenheit mit genauen Inhalten und Zeitstellungen behauptet. Dieser ältere Teil der Geschichte ist gefälscht oder erdichtet.

Zu einer gewissen Zeit muß eine gewaltige Fälschungsunternehmung stattgefunden haben. Durch diese wurde die ältere Überlieferung vernichtet – sofern eine solche überhaupt bestanden hat - und durch eine Geschichtsdichtung entsprechend einer Matrix ersetzt.

Für diese Aktion sind von früheren Forschern verschiedene Namen vorgeschlagen worden.

Wilhelm Kammeier, der große deutsche Kritiker der „mittelalterlichen“ Überlieferung, sprach von einer „Großen Aktion“.

Edward Johnson in den 1890er Jahren nannte diese Unternehmung den „runden Tisch der Mönche“.

Gemeinsam ist beiden genannten Autoren, daß sie eine klerikale Autorschaft dieser Geschichtsfälschung behaupten. – Das ist aber nur mit Einschränkungen richtig, wie wir bei der alten Schwyzer Geschichtsschreibung sehen werden.

Fomenko, der russische Forscher, hat die Matrix mit mathematisch-statistischen Mitteln nachgewiesen, also daß die Inhalte der älteren Geschichte sich chronologisch und inhaltlich entsprechen und auf wenige Vorlagen zurückgehen. Er spricht vom „Textbuch“ der alten Geschichte und der Chroniken.

Um die Begriffe braucht man sich nicht zu streiten. Unleugbar ist, daß die ältere Geschichte, ob sie nun in die biblische, die antike oder die mittelalterliche Zeit gesetzt wird, Erzählungen sind. Diese folgen alle einem vorgegebenen Strickmuster und stimmen deshalb in ihren Inhalten weitgehend überein.

Die Figur des Herrschers Salomon zum Beispiel findet sich in allen wichtigen Epochen der älteren Geschichte, mit oft verblüffenden Parallelitäten und Übereinstimmungen (Pfister, Matrix). – Der byzantinische Kaiser Justinian ist ebenso ein Salomon wie Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen.

Nicht nur weltliche Herrscher, auch religiöse Führer haben ihre Doppelgänger oder Parallelitäten.

Die Lebensgeschichte von Jesus Christus nach den Evangelien stellt zum Beispiel eine exakte Übersetzung und Mißdeutung der Vita Caesaris dar.

Und in die erfundene Gestalt des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli ist sowohl das Vorbild von Jesus eingeflossen wie dasjenige des oströmischen Kirchenvaters Basilius des Großen (Pfister: Matrix).

Die Geschichtserfindung geschah zu einer bestimmten Zeit, ist deshalb inhaltlich und strukturell homogen. Alle Geschichten stehen grundsätzlich auf der gleichen Ebene. Daraus ergibt sich ein bisher nicht erkannter monumentaler Treppenwitz der Weltgeschichte: Die ältere, die erfundene Geschichte wird von Historikern dargestellt, die bestimmen wollen, was früher und was später war. – Aber die historische Betrachtungsweise bei der Vorgeschichte ist falsch, weil wir es mit Literatur, nicht mit Geschichte zu tun haben.

Als Beispiel möge Johannes von Müller dienen. Dieser schrieb Ende des 18. Jahrhunderts die erste allgemeine Schweizer Geschichte. Aber Müllers Werk nennt sich zutreffend Geschichten der Schweizer. Der Schreiber gab also zu, literarische Geschichten mit historischem Hintergrund und nicht wahre Geschichte zu schreiben. – Und sogar der Druckort war fingiert, nämlich Boston statt Bern. – Auch das Erscheinungsdatum „1780“ ist unmöglich früh.

Die einzelnen Geschichten der Großen Aktion stehen in einem wechselseitigen Verhältnis, sie bedingen einander.

Die biblischen Schriften gehören zweifellos zum ältesten Schriftbestand. Aber der zeitliche Abstand zu den anderen Texten, etwa den Kirchenvätern und nachher den Chroniken ist gering. Und es ist fast aussichtslos zu bestimmen, ob die Bibel oder die „antiken“ griechischen und lateinischen Autoren früher oder gleichzeitig geschrieben wurden.

Im Folgenden soll das wahrscheinliche maximale Alter der historischen Quellen an Beispielen aus der Schweiz untersucht werden. Dabei ist eine allgemeine Feststellung voranzustellen. Diese hat keine fixen Eckpunkte, ist aber als richtig anzunehmen.

Alphabet, Schrift und Schriftsprachen reichen weniger als dreihundert Jahre vor heute zurück.

Vielleicht stehen Griechisch und das griechische Alphabet am Anfang. Aber jene Sprache ist nicht dort entstanden, wo heute der Name Griechenland haftet, sondern vielleicht in Syrien oder Ägypten.

Auf der Grundlage des Griechischen wurde in Westeuropa das alte Latein als Reichs- und Verkehrssprache entwickelt.

Erst später kam Hebräisch dazu. Dieses fußt auf dem Griechischen und enthält lateinische Lehnwörter.

Deutsch muß gleichzeitig wie das Hebräische entstanden sein. Der deutsche Wortschatz ist zu einem beachtlichen Teil hebräisch. Vermutlich gab es vorher eine deutsch-hebräische Mischsprache, das nachmalige Jiddisch.

Je besser eine Sprache sich darbietet, desto jünger ist sie. Das ciceronianische Latein und das homerische Griechisch haben eine Raffinesse, die erst spät vorstellbar ist.

Die ersten Geschichten, die aufgeschrieben wurden, waren religiöse Erbauungsgeschichten, nicht Geschichte in unserem Sinne.

Die ältesten schriftlichen Zeugnisse, also die Bibel, die Kirchenväter und die antiken Schriftsteller, kennen noch keine Zeitangaben, die sich mit den heutigen verbinden ließen.

Die heutige Schriftkultur und der Buchdruck sind um 1760 anzusetzen. Die alten und die neuen Sprachen sind erst dann fixiert worden.

Mit der Erfindung von Zeitstellungen wurden die Geschichten in eine absurde pseudohistorische Chronologie gezwängt. So entstand die Meinung, daß hier eine geschriebene Geschichte der Vorzeit vorliege.

Auf die Geschichte der Eidgenossen angewendet bedeutet dies: Eine Schwurgenossenschaft hat es gegeben, aber sie ist im vorgeschichtlichen Dunkel entstanden. Die Entstehung des alten Bundes ist von den ältesten Chronisten falsch oder verzerrt dargestellt worden. Wir kennen nur das Ergebnis, die alte Schwyzer Eidgenossenschaft, wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts dastand.

Die Quellen und ihr Alter

Geschichte braucht Quellen, das ist eine Binsenwahrheit. Deshalb gibt es innerhalb der Geschichtswissenschaft eine eigene Abteilung Quellenkunde. Dort wird aufgezählt, was für Quellen für die betreffende Zeit, Personen oder Ereignisse zur Verfügung stehen.

Aus dem Gesagten ahnen wir schon, wo der Pferdefuß bei diesen naiven Hinweisen zu finden ist: Irgendwo nach ein paar Jahrhunderten vor heute hört jede zuverlässige Geschichte auf, werden die Quellen unzuverlässig.

Auch die Geschichte der alten Eidgenossen steht und fällt mit der Quellenfrage. - Für die Ursprünge der Eidgenossenschaft führt dies zu einem Alptraum. Die vorhandenen Quellen sind ausnahmslos schmal und ihre Beziehung zu den behaupteten Zeiten mehr als fragwürdig.

Nun kann man auch aus schmalen Quellen sehr viel herausholen. Mit dieser Methode ist zum Beispiel nur über den Bundesbrief von „1291“ - etwa zwei Druckseiten – von einem Historiker 1956 ein fast 600seitiges Buch erschienen.

Und in den 1930er Jahren – gleichlaufend mit der Schaffung eines Bundesbrief-Archivs - unternahm man das große Werk einer Sammlung aller Quellen über die angebliche Bundesgründung 1291.

Herausgekommen ist das Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bis anfangs der 1980er Jahre sind in dieser monumentalen Quellensammlung zwölf Bände und ein Registerband erschienen, gegliedert in drei Teile: Urkunden, Urbare und Rödel, so wie Chroniken und Dichtungen. Das Prinzip war, alle für die Entstehung des Schwyzer Bundes wichtigen Dokumente zu sammeln.

Vor kurzem las ich in einem Geschichtsbuch, wie sich ein Historiker darüber beklagte, daß dieses Quellenwerk keine neue Diskussion über die Ursprünge der Eidgenossenschaft ausgelöst habe. – Anders herum wird hier gesagt, die ganze riesige, von der öffentlichen Hand finanzierte Arbeit der Aufarbeitung von Quellen sei unnütz gewesen.

Mit der Geschichtskritik und Geschichtsanalyse begreift man, weshalb das genannte Werk nicht zu einem neuen Bild der Anfänge der Schwyzer Eidgenossenschaft geführt hat: Die Herausgeber vertrauten vollständig auf die konventionelle Chronologie. Also daß sie nur Urkunden bis etwa „1350“ berücksichtigten und weitere Dokumente bis „1400“. Man ahnte nicht, daß es eine zeitliche Untergrenze für erhaltene schriftliche Aufzeichnungen gibt.

Aber bei den Chroniken und Dichtungen mußte man notgedrungen Ausnahmen machen, weil von der Befreiungsgeschichte keine Aufzeichnungen aus so früher Zeit existieren. Also wurde auch das Weiße Buch von Sarnen neu ediert – in der Meinung, daß dessen erzählender Teil „um 1470“ entstanden sei und etwas mit Geschehnissen „um 1300“ zu tun habe.

Die Herausgabe von Urkunden wäre überflüssig gewesen. Man hätte dafür mehr auf die Neuedition von Chroniken verwenden sollen. Die Berner Chronik von Justinger in ihren verschiedenen Versionen zum Beispiel hätte längst eine kritische Neuausgabe verdient. Dieses Werk nämlich ist für die Befreiungsgeschichte der Waldstätte viel wichtiger als die übrigen Texte und Dokumente.

Man hätte zuerst überlegen sollen, bevor man ein großes und kostspieliges Werk unternimmt. - Aber die Devise hieß offenbar: Zuerst etwas schaffen, nachher überlegen.

Wenn wir die verschiedenen Arten von Quellen Revue passieren lassen, sie kurz auf ihren Wert und Unwert analysieren, so erkennen wir das ganze Elend der Geschichtsforschung. Diese glaubt alles, was über die Vorzeit erzählt wird, mit ihren Inhalten und Datierungen. Das kann nur gelingen, indem man die Quellenkritik vernachlässigt. Diese ist ein Stiefkind der historischen Forschung.

Bis ins zwanzigste Jahrhundert existierte wenigstens da und dort eine kritische Grundhaltung gegenüber alten Quellen. Danach haben sich die Verhältnisse ins Gegenteil verkehrt. Heute dominiert eine geradezu verbrecherische Quellen- und Überlieferungsgläubigkeit. Quellenkritik wurde ersetzt durch Quellenanbetung. Das gilt für alle Arten von Überlieferung: geschriebene Dokumente, Kunstgegenstände, Bauwerke: Diese Dinge stammen gemäß den heutigen Forschern aus den Zeiten und von den Autoren, welche die Handbücher und Lexika nennen.

In der Geschichtswissenschaft herrscht eine Art philosophischer Nominalismus: Die Quellen sind echt und die behaupteten Zeiten ebenfalls, weil das so bestimmt worden ist. Zweifel und Veränderungen sind ausgeschlossen. Man muß diese Geschichte auch glauben, wenn sie absurd ist. Credo quia absurdum!

Die neuere schweizergeschichtliche Forschung weiß von der Quellenproblematik. Zum Beispiel stellt der Historiker Michael Jucker fest, daß in der Zeit „um 1470“ ein deutlicher Verschriftlichungsschub einsetzt (Jucker, 2004). – Aber dieses „Spätmittelalter“, in welchem die Quellen zu sprudeln beginnen, muß um drei Jahrhunderte nach vorne verschoben werden.

Handschriften

Die älteste Quellenüberlieferung ist ausschließlich handschriftlich, weil der Buchdruck erst später erfunden wurde.

Nicht einmal dieser scheinbar einleuchtende Lehrsatz der historischen Quellenkunde stimmt, wie wir bald sehen werden. – Aber lassen wir die Aussage fürs erste.

Die alten Texte wurden zuerst auf Papyrus, dann auf Pergament geschrieben, weil das Papier erst später erfunden wurde.

Auch dieser zweite Lehrsatz der Quellenkunde ist unrichtig.

Schon am Anfang unserer kurzen Betrachtung über die alten Handschriften haben wir es also mit unbewiesenen und falschen Behauptungen zu tun. Wir gehen die Axiome der handschriftlichen Überlieferung im Einzelnen durch.

In den europäischen Bibliotheken und Archiven lagern riesige Bestände an Handschriften. Sie bilden den Stolz jener Institutionen und werden von ihnen dementsprechend herausgestrichen.

Wer wollte nicht vor Demut stumm werden über die erwähnten Schätze der Sankt Galler Stiftsbibliothek oder der einzelnen Kantons- und Universitätsbibliotheken! Eine Aura der Ehrfurcht vor angeblich uralten Schriften wird geschaffen, die einer kritischen Betrachtung abträglich ist. – Es geht hier um Quellenanalyse, nicht um Quellenbewunderung.

In Cologny bei Genf gibt es die bekannte Handschriftensammlung der Bodmeriana, genannt nach dem Schweizer Mäzen Martin Bodmer. Dieser sammelte zwischen 1930 und 1970 die erlesensten Kostbarkeiten, um das schriftliche Vermächtnis der Menschheit zu dokumentieren.

In der Sammlung Bodmer kann man etwa Papyrustexte mit dem Johannesevangelium bewundern, die angeblich weniger als hundert Jahre nach dem Tode Jesu geschrieben worden sind. - Man darf ruhig sagen, daß Bodmer aus hehren Absichten die primitivsten Textfälschungen des 20. Jahrhunderts erworben hat.

Wie bestimmt man überhaupt das Alter von Handschriften?

Die Forscher huldigen hier einem doppelten Positivismus, dem des Inhalts und dem der Schrift.

Eine Evangelien-Handschrift ist grundsätzlich schon „ab dem 2. Jahrhundert nach Christus“ möglich – weil der Beginn der Redaktion der Frohbotschaft sage und schreibe vor 1900 Jahren begonnen habe.

Und eine Handschrift ließe sich auch nach der Schrift datieren. Eine Capitalis sei älter als eine Unziale, und die karolingische Minuskel immerhin Jahrhunderte älter als die spätmittelalterlichen und Renaissance-Schriften.

Die Sache mit den „mittelalterlichen“ Schriften ist ein einziger riesiger Betrug. Schon Kammeier hat festgestellt, daß die angebliche Schriftentwicklung ein Phantasieprodukt ist (Kammeier, 166).

Die Unterschiede in alten Schriften sind konstruiert. Mehr noch: Ob „spätrömisch“ oder „mittelalterlich“, jede Buch- und Urkundenschrift zeigt bei genauer Betrachtung, daß dort die gotische Schrift einer einzigen Schreibepoche durchscheint. Und diese Zeit unterschreitet nicht die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Das muß so sein. Ein Schreiber kann unmöglich über längere Abschnitte seine gewohnte Schreibweise verleugnen. „Die mittelalterlichen“ Schriften haben also nichts mit einem Zeitablauf zu tun, sondern sind in Fälschungsabsicht hergestellte Kunstprodukte.

Vielleicht die berühmteste „karolingische“ Handschrift in der Schweiz ist der sogenannte Abrogans, der in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen aufbewahrt wird. Es ist dies ein Wörterbuch, das lateinische Ausdrücke ins Althochdeutsche überträgt. Das Werk gilt als Kostbarkeit für die Germanisten, die sich daran laben, daß sie hier das älteste deutsche Sprachzeugnis, „etwa 1200 Jahre alt“, vor sich haben. – Aber leider werden wir die Sprachforscher enttäuschen müssen: Die „karolingische“ Schrift wurde erst um vielleicht 1770 erfunden.

Und überhaupt ist die Geschichte des Klosters Sankt Gallen, wie bereits erwähnt, die eines 800-jährigen Verfalls: Im „Hochmittelalter“ wurde noch viel geschrieben, im „Spätmittelalter“ schon weniger.

In den beiden letzten Jahrhunderten seiner Existenz – bis zur Aufhebung während der Napoleonischen Zeit – leisteten die Mönche überhaupt nichts mehr Produktives: Von einer qualitativ hochstehenden und breit abgestützten St. Galler Buchkunst kann im 17. oder 18. Jahrhundert nicht mehr gesprochen werden (Cimelia, 10).

Der Sachverhalt ist umgekehrt: Die dortigen Handschriften unterschreiten in keinem Fall die historische Zeitbarriere des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts.

Auch wenn man nichts von der jungen Entstehung der Handschriften wüßte, so müßte der gesunde Menschenverstand dagegen sprechen, tausend- bis tausendfünfhundertjährige Handschriften anzunehmen.

Wie hätte man in alter Zeit solche Schriften sicher und über riesig lange Zeiträume aufbewahrt? Die Manuskripte hätten ständig geschützt werden müssen vor Feuer, Wasser, Diebstahl, Tierfraß, organischer Zersetzung – und dies ohne die modernen Techniken der Konservierung.

In alten Chroniken wird ständig von verheerenden Stadtbränden berichtet. - Merkwürdigerweise haben diese der Textüberlieferung überhaupt nicht geschadet. Es gibt nirgends Beispiele von angebrannten oder halbverbrannten Pergamenten.

Die Sache mit den alten Handschriften ist auch von den langen Zeiträumen her zu widerlegen. Normalerweise stammt ein Text aus der Zeit, in der er überliefert worden ist – und das ist ausnahmslos die Neuzeit, wie wir sehen werden.

Eine andere Masche, um ein angeblich hohes Alter von Handschriften zu begründen, ist das oft verbreitete Märchen, daß irgendein findiger Forscher in einer Bibliothek oder einem Archiv längst vergessene Aufzeichnungen gefunden habe.

Beispielsweise habe der Humanist Poggio Bracciolini – Conrad Ferdinand Meyer setzte ihm mit seinem Plautus im Nonnenkloster ein literarisches Denkmal – während des Konstanzer Konzils „1415 und 1416“ mehrere Abstecher ins Kloster Sankt Gallen gemacht und dort zahllose römische Schriftsteller entdeckt: Quintilian, Valerius Flaccus, Pedianus, Lukrez, Silius Italicus, Ammianus Marcellinus (Baldauf, 5 ff.).

Aber die Quellen lassen einen im Unklaren, ob Poggio die Manuskripte abgeschrieben, ausgeliehen oder gestohlen hat. Und weshalb waren die Sankt Galler Mönche so ungebildet, daß sie nicht ahnten, was für literarische Schätze in ihrem Kloster herumlagen?

Das ist nur eine von Dutzenden von haarsträubenden Auffindungsgeschichten, welche die Humanisten erfunden haben, um zu verheimlichen, daß sie selbst die Texte geschrieben haben.

Die Handschriftenforscher haben sich unendliche Mühe gegeben, Schriften zu vergleichen und so einen „reinen“ Text, etwa der Bibel herzustellen. – Dabei vergessen die Gelehrten, daß diese Handschriften alle aus der gleichen Zeit stammen und sich somit kaum feststellen läßt, was älter oder jünger ist.

Schlimmer noch: Hinter diesem Wirrwarr verschiedener Manuskripte steht eine bewußte Fälscherabsicht. - Weshalb etwa wurden vier Evangelien geschaffen, wo doch eine Frohbotschaft gereicht hätte?

Auch bei Chroniken über die alte Eidgenossenschaft, etwa dem Berner Diebold Schilling, gibt es eine komplexe und letztlich unentwirrbare Folge von Fassungen. Aber dieses Durcheinander wurde künstlich geschaffen, um eine Entstehung über Jahre und Jahrzehnte behaupten zu können.

Die „antiken“ griechischen und römischen Schriftsteller sind uns sämtlich nur aus „mittelalterlichen“ Handschriften überliefert. Aber aus welcher Zeit stammen diese?

Wir ahnen es: Die Schriftüberlieferung des Altertums und des Mittelalters sind in einer einzigen Zeit geschaffen worden, wie dies schon vor über hundert Jahren der geniale Philologe Robert Baldauf erkannt hat (Baldauf, 98).

Hinter dem Namen Baldauf versteckt sich nach neuen Erkenntnissen der Altphilologe Friedrich Nietzsche.

Eine alte Handschrift und damit ein alter Autor dürfen nicht nach den willkürlichen Zuschreibungen und Datierungen eingeordnet werden, sondern nach der Zeit des Bekanntwerdens, der Verbreitung und der Wirkung.

Als Beispiel soll die prachtvoll illustrierte sogenannte Manessische Liederhandschrift erwähnt werden.

Angeblich entstand dieses Sammelwerk der mittelhochdeutschen Dichtung „um 1370“ in Zürich oder in der Ostschweiz. Aber bekannt geworden ist das Buch-Juwel erst „gegen Ende des 16. Jahrhunderts“ – und auch das ist noch viel zu früh. - Was tat ein Manuskript fast drei Jahrhunderte im Verborgenen? Wer hat es aufbewahrt, wer gepflegt?

Man kann jedes beliebige alte Dokument untersuchen, sei dies nun eine Urkunde, eine Chronik oder eine alte Dichtung. Immer ergibt sich, daß das Werk erst in der Renaissance oder im Barockzeitalter entdeckt oder bekannt wurde.

Konventionelle Forscher räumen häufig ein, daß nicht Originale überliefert worden seien, sondern Abschriften. Aber die Sache mit den „Abschriften“ ist höchst verdächtig, wie wir an mehreren Beispielen sehen werden.

Beispielsweise soll die Zürcher Reformationschronik von Heinrich Bullinger „um 1550“ geschrieben worden sein. Aber erhalten ist das Geschichtswerk nur in einer Abschrift von „1605“.

Viele alte Handschriften sind auf Pergament geschrieben. Das war erstens ein dauerhafter Beschreibstoff und in ganz alter Zeit auch der einzige neben dem in Europa ungebräuchlichen Papyrus.

Aber der Sachverhalt ist so nicht richtig.

Als die heute bekannte Schriftkultur aufkam, gab es bereits Papier. Weshalb wählte man häufig gleichwohl die viel teurere Tierhaut? – Auch das hat mit Fälschung zu tun: Pergament gibt den Anschein von hohem Alter und läßt offenbar kritische Einwände zum Vornherein verstummen.

Wenn die alten Handschriften gar nicht so alt sind, kommt die zweite Grundannahme der handschriftlichen Textüberlieferung ins Wanken. Zu der Zeit, als diese Schriften geschrieben wurden, gab es bereits den Buchdruck.

Was soll das? Da wurden also Tausende von kleineren und größeren Texten, ganze Bücher, riesige Werksammlungen von Hand abgeschrieben, wenn man es doch viel bequemer mit der schwarzen Kunst hätte machen können!

Mit der Geschichte des Buchdrucks und mit den Handschriften stimmt etwas nicht.

Drucke

Bisher galt als historische Grundwahrheit, daß der Buchdruck „kurz nach der Mitte des 15. Jahrhundert“ von einem gewissen Johann Gutenberg aus Mainz erfunden wurde. Dieser Mann soll das erste Buch gedruckt haben. Und als Text wählte er natürlich die Grundlage des christlichen Glaubens, die Bibel. Eine zweiundvierzigzeilige sogenannte Gutenberg-Bibel wird heute als kostbare Rarität gehandelt.

Bücher aus den Anfangsjahrzehnten des Drucks heißen Wiegendrucke, weil diese technische Erfindung damals angeblich noch in den Kinderschuhen steckte.

Unterdessen haben Forscher herausgefunden, daß der berühmte Johannes Gutenberg ein notorischer Querulant war und gar kein Buch gedruckt hat. – Es muß sich um eine Kunst-Figur handeln.

Und die sogenannten Wiegendrucke sind undatiert. Das aber spricht nicht für eine frühe Entstehungszeit, sondern für Fälschungsabsicht. Man wollte damit ein hohes Alter vortäuschen.

Ein kurzer Blick auf frühe Drucke im Gebiet der alten Eidgenossenschaft zeigt exemplarisch, wie verschwommen die zeitliche Bestimmung von frühen gedruckten Büchern ist.

Normalerweise muß man annehmen, daß sich eine technische Erfindung schnell und gleichmäßig verbreitet. Aber mit dem Buchdruck war das offenbar nicht so.

Die frühesten Druckzentren lagen am Rhein, von Mainz bis Straßburg, behauptet das Geschichtsbuch. „Gegen 1500“ soll die schwarze Kunst in Basel angekommen sein, „um 1530“ in Zürich. In Bern hingegen soll erst „1537“ eine Druckerei eingerichtet worden sein; in Freiburg im Üechtland sogar erst „1585“.

Kann jemand die schleppende Verbreitung des Druckwesens auf einem so kleinen Gebiet wie der Schweiz und Süddeutschland vernünftig erklären?

Und wenn man frühe eidgenössische Druckerzeugnisse kritisch betrachtet, wird die Verwirrung vollständig. Ein paar Beispiele sollen das beleuchten.

Basel war bekanntlich die große schweizerische Humanisten-Stadt. Deshalb kamen dort frühe und wichtige Werke heraus.

Neben Zürich nahm Bern ohne Verzug die Reformation auf. Bereits „1523“ erließ die Berner Regierung ein Predigt-Mandat zum Nutzen und Frommen aller Prediger in seinem Herrschaftsgebiet. Da man angeblich noch keine eigene Druckerei hatte, ließ man das Dekret in Basel drucken (Abbildung 3).

Das Berner Predigtmandat ist ein dicker Brocken für einen kritisch urteilenden Historiker. Auf dem Druckblatt fällt die reich ornamentierte Initiale W auf. – Angeblich habe diese der bekannte Berner Dichter und Künstler Niklaus Manuel Deutsch geschaffen.

In der Initiale findet sich auch eine figürliche Darstellung: Da schießt ein Wilhelm Tell seinem Sohn mit der Armbrust den Apfel vom Kopf!

Die Tell-Illustration führt geradewegs zur „frühesten“ gedruckten Chronik der Schwyzer Geschichte, der Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft, jr harkommen und sust seltzam strittenn und geschichen von Petermann Ettelin, „1507“ in Basel erschienen.

Bei dieser Gelegenheit soll auf das sonderbare Deutsch des Titels hingewiesen werden. Angeblich ist es frühes Neuhochdeutsch.

Aber bei vielen alten Darstellungen kommt man der Verdacht hoch, die Chronisten hätten absichtlich in altertümelnder Sprache geschrieben, um ein höheres Alter ihrer Texte vorzuspiegeln.

 

Abbildung 3: Das Berner Predigt-Mandat von "1523"

 (linker Teil)

Die Initial-Block W (WJr der Schulthes) enthält eine Darstellung von Tells Apfelschuß.

Staatsarchiv Bern: B III 38, p. 193

 

   


Das Berner Predigt-Mandat von „1523“

Mit Datum Viti und Modesti („15. Juni 1523“) ließ die Berner Regierung ein Mandat an alle Geistlichen, Vögte und Regierungsmitglieder drucken, worin sie offiziell Stellung zu den immer stärker werdenden reformatorischen Tendenzen nahm.

Das Dekret fordert die Geistlichen auf, nur das zu predigen, was in den vier Evangelien, dem heiligen Paulus, den Propheten und dem Alten und Neuen Testament steht. – Im Besonderen solle man alles auslassen, was vom Luther oder anderen Doctoribus geschrieben und gesagt werde.

Da Bern zu dieser Zeit noch keine eigene Druckerei besaß, wurde das Mandat in Basel gedruckt – angeblich in einer Auflage von tausend Stück. – Erhalten hat sich aber heute nur noch ein Exemplar.

An dieser Geschichte stimmt überhaupt nichts:

Die Reformation - oder besser gesagt die Glaubensspaltung - kann erst nach dem mittleren 18. Jahrhundert stattgefunden haben.

Der Buchdruck ist ebenfalls um diese Zeit aufgekommen.

Die biblischen Schriften, auf welche das Mandat Bezug nimmt, haben auch erst um diese Zeit existiert.

Aber das Ungeheuerlichste an diesem Druck ist die Initiale W für Wir.

Der Anfangsbuchstabe hat als Hintergrund ein Bildchen mit einer Darstellung von Tells Apfelschuß! – Man glaubt sogar sicher zu sein, daß der Berner Künstler und Dichter Niklaus Manuel Deutsch diese Grafik geschaffen habe.

Die Tell-Sage ist, wie die ältesten chronikalischen Aufzeichnungen, erst vielleicht ab 1760 schriftlich und bildlich greifbar.

Die Fälscher dieses Mandats meinten wohl, mit einem Bild von Wilhelm Tell ein so frühes Datum des Druckes besser begründen zu können. Geschichtsanalytisch aber entlarven sie sich eben dadurch.

Gewisse Passagen des Mandats sind amüsant zu lesen:

Beispielsweise steht geschrieben, daß es gewissenhafte Prediger gebe, die dann aber von anderen Ketzer, Schelme und (Spitz-)Buben genannt werden!

Der abgebildete Bild-Buchstabe ist übrigens kein Unikat. Der Zürcher Buchdrucker Froschauer verwendete ihn für eine Bibelausgabe und für einen gedruckten Zwingli-Brief.

Die Chronik von Petermann Etterlin ist interessant, aber vom Inhalt her nicht überragend. Für die ältere Zeit - und das sind in seinem Werk ungefähr zwei Drittel - schreibt er vorwiegend Justinger ab. - Und in welche Zeit dieser Justinger zu setzen ist, werden wir bald sehen.

Eigentlichen Quellenwert schreibt man der Etterlin-Chronik nur für den Burgunderkrieg zu. Und gerade für die „Zeitgeschichte“, also die Jahre vor dem angeblichen Druckdatum, wird der Chronist unzuverlässig und bricht schließlich ganz ab.

Berühmt ist Etterlins Druckwerk, dieses Programm einer gesamteidgenössischen Chronik (Bodmer, 60) nicht wegen des mittelmäßigen Textes, sondern wegen seiner Holzschnitte.

Besonders zwei Bilder aus Etterlin sind es, die in fast jedem illustrierten Geschichtswerk über die alte Eidgenossenschaft wiedergegeben werden: das Bild von der Besiedlung der Waldstätte und die Tell-Szene.

Das letztere Bild schafft einen Zusammenhang mit der erwähnten Tell-Abbildung in der Initiale des Berner Predigtmandats – auch mit der Darstellung aus einer Handschrift (Abbildung 25). Diese stammen aus der hohen Zeit der Geschichtsschöpfung, sind also zeitgleich.

Das Verhältnis zwischen Handschriften und Drucken ist völlig anders als von der konventionellen Wissenschaft dargestellt.

Bisher galt das Axiom, daß Handschriften grundsätzlich älter sein können als Drucke, weil der Buchdruck später erfunden wurde.

Eine genaue Betrachtung läßt jedoch keinen Altersunterschied zwischen Drucken und Handschriften feststellen.

Mehr noch: Am Anfang der Schriftüberlieferung gab es nur gedruckte Bücher. Die Handschriften folgten nachher, bedingten den Buchdruck.

Damit fällt eine kapitale Behauptung der Textüberlieferung.

Zu der Zeit, als man begann, die alten Texte niederzuschreiben, existierte die schwarze Kunst schon.

Grundsätzlich stehen Druckausgaben alter Werke vor den Handschriften. – Ausnahmen machen nur Texte, die nicht gedruckt wurden.

Weshalb schrieb man riesige Mengen Handschriften – religiöse und literarische Werke, Urkunden, Codices, Manuale, Rechnungsbücher - wenn der Buchdruck schon existierte und sich anbot?

Hier unterschätzt man die Triebfedern der Großen Aktion.

Inschriften

Inschriften in Stein oder Metall sind grundsätzlich dauerhafter als Papier und Pergament. Und weil deren Herstellung mehr Aufwand erfordert, so könnte man meinen, daß hier die Fälschungsgefahr geringer sei. – Aber das ist nicht der Fall.

Inschriften gibt es im Allgemeinen nur aus der „Antike“, nicht aus dem „Mittelalter“. Das ist die genaue Umkehrung zu den Urkunden: Diese decken das „Mittelalter“ ab, nicht das „Altertum“. – Ein Zufall oder eine Grundsatzentscheidung der Leute, welche die Geschichtserfindung steuerten?

Nun werden die Forscher einwenden, daß es sehr wohl und viele „mittelalterliche“ Inschriften gebe. - Aber stammen diese Dokumente wirklich aus der behaupteten Epoche?

Man braucht nur ein paar Beispiele genauer zu betrachten, um festzustellen, daß die Inschriften die gleichen unlösbaren Probleme schaffen wie die Handschriften.

Im Ausstellungskatalog Bildersturm (2001) wird als Beispiel für das reformatorische Wüten gegen Bildwerke unter anderem das prächtige Grab des Priors Henri de Sévery erwähnt, der „von 1371 bis 1380“ dem Kloster Romainmôtier im Waadtland vorstand.

Dieses angeblich von dem Geistlichen errichtete Monument wurde bei der Einführung des neuen Glaubens in tausend Stücke zerschlagen. Vollständig erhalten und im Historischen Museum Lausanne ausgestellt ist die Liegefigur, weil sie zu einem Brunnenstock umfunktioniert wurde.

Beide Langseiten der Figur ziert ein gotisches Schriftband, welches von diesem Sévery erzählt.

Die Fundumstände des Prachtgrabes sind unverdächtig: Die Fragmente wurden 1986 – im gleichen Jahr wie der Skulpturenfund von der Plattform des Berner Münsters – entdeckt.

Aber gotische Schriftbänder auf einem Grabmonument des 14. Jahrhundert? – Die Gotik blühte ab der Mitte des 18. Jahrhunderts.

Der 1986 entdeckte Berner Skulpturenfund ist erwähnt worden. Dort gibt es einige Jahrzahlen und kurze Inschriften – und alle in der gleichen gotischen Inschriften-Schrift geschrieben. Beispielsweise die Standfigur eines männlichen Heiligen (Sladeczek, 328 ff.) mit einer Widmung: Meinrat der gol(d)smit mcccc (1500). Dieser Goldschmied ist um diese Zeit auch urkundlich belegt – aber das will nichts heißen.

Viel klarer, weil offensichtlich eine barocke Fälschung, ist die lateinische Inschrift an einer alten Glocke in der ehemaligen Propstei Wagenhausen, am linken Rheinufer gegenüber Stein am Rhein. Eine Glocke, so alt wie die Eidgenossenschaft, betitelte die Neue Zürcher Zeitung vor Jahren einen Bericht über diesen Kunstgegenstand (NZZ, 31.7.2002). Und weshalb? Weil die gotische Inschrift neben der Widmung an die Muttergottes „1291“ als Stiftungsjahr angibt!

Nun ist die Vorstellung, eine Glocke läuten zu hören, die genau im angeblichen Gründungsjahr der Schwyzer Eidgenossenschaft eingeweiht wurde, ganz hübsch. Aber nur ein Fingerhut kritischer Geschichtsanalyse widerlegt diese Behauptung.

Der Dachreiter, in welchem die Glocke von Wagenhausen angebracht ist, stammt sicher aus dem 18. Jahrhundert. Der Klangkörper wurde erstmals „1679“ erwähnt – immer noch zu früh, aber nicht mehr weit von der sicheren Entstehungszeit entfernt.

Zudem gleicht die Marienglocke von Wagenhausen in Form und gotischer Inschrift derjenigen der Pfarrkirche des benachbarten Ortes Burg an der Stelle des früheren spätrömischen Kastells Tasgetium. – Statt beide Klangkörper der Geschichtszeit zuzuweisen, wo sie hingehören, wird „Ende des 13. Jahrhundert“ angenommen!

Wie kann man ein Datum „1291“ glauben, wenn die nächste Erwähnung vierhundert Jahre später ist?

Auch aus dem Bernbiet sind zwei alten Glocken mit fragwürdigen Datierungen und Inschriften zu erwähnen.

Da gibt es eine Kirchenglocke, die der lateinischen Schutzinschrift zufolge „1434“ gegossen und in Romont verwendet wurde.

„1475“ holten die Berner den Klangkörper nach Bern – gewissermaßen als Teil der „Burgunderbeute“. Die Glocke von Romont soll hernach in Belp, dann in Zimmerwald gedient haben und befindet sich heute im Historischen Museum Bern (Bildersturm, 165).

Und aus der ehemaligen Wallfahrtskirche Oberbüren bei Büren an der Aare hat sich ein Glockenfragment von angeblich „1508“ erhalten. Dargestellt ist ein sogenanntes Bern-Rich, ein Reichsschild mit Bügelkrone und zwei sich zugewandten bernischen Standeswappen (Bildersturm, 253). - Aber heraldisch sind die Bügelkrone und die ganze Anordnung der Elemente erst im 18. Jahrhundert möglich.

Die Kunsthistoriker, welche das angeblich hohe Alter von Kirchenglocken nachbeten, vergessen die Technikgeschichte. Auch diese stellt unbequeme Fragen: Ab wann beherrschte man die Technik, Klangkörper von mehreren Zentnern Gewicht fehlerfrei zu gießen?

Wenigstens sind die „römischen“ Inschriften alle echt, könnte man meinen – aber nur so lange, wie man keine Einwände erhebt. Denn die Masse der „antiken“ Inschriften stellt bei näherem Zusehen teilweise alptraumhafte Probleme, so daß man diese Quellen bald wieder fallenläßt.

Auch aus der Schweiz sind uns zahllose „römische“ Inschriften bekannt. Die Auswahl der wichtigsten Dokumente bei Gerold Walser (1979/80) ist auf drei kleine Bände verteilt. Und noch immer kommen bei Ausgrabungen neue Inschriften zu Tage.

Die meisten schriftlichen Zeugnisse in Stein aus der Römerzeit sind Grab-, Weih-, Widmungs- und Ehreninschriften, die zwar eine Menge Namen nennen, oft etwas über Berufe, Beamtenfunktionen, die Götterwelt und andere Dinge aussagen, deren Quellenwert aber nicht überschätzt werden darf.

Für aufschlußreich halte ich die „römische“ Inschrift über die Erbauung des Wachtturms bei Koblenz im Kanton Aargau, an einer Stelle, die Summa rapida genannt wurde (Abbildung 4 oben).

Die Inschrift gilt wegen ihren teilweise unbeholfenen Lettern und ihrer rustikalen Sprache als spätrömisch – was richtig ist. Aber jene Spätzeit ist identisch mit der Frühzeit der Eidgenossen, dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts.

Und der Bau eines Wachtturms am linken Ufer des Hochrheins muß einen realen Hintergrund haben. Wir finden ihn in der eidgenössischen Geschichtserfindung in dem „Schwabenkrieg“. – Eine solche Konfrontation muß stattgefunden haben. Aber mit den „Römern“ waren wohl frühe Eidgenossen gemeint, die gegen die anderen „Römer“, die man später Schwaben nannte, kämpften.


Abbildung 4: Zwei römische Inschriften aus Helvetien

Oben: Inschrift über die Errichtung eines Wachtturms bei den Oberen Stromschnellen (Summa Rapida)
am Rhein bei Koblenz (Kanton Aargau)

aus: Andres Furger: Die Schweiz zur Zeit der Römer; Zürich 2001; 289

Unten: Detail einer Inschrift von „377 AD“ über die Restaurierung eines Gebäudes. Gefunden in Sion – Sitten (Wallis).
Das Christogramm befindet sich in der Mittelzeile rechts und ist von einem Alpha und Omega flankiert.

Foto: 17.9.2012

2 römische Inschriften